Irrationale Liebe

Gleichnisse aktuell

Irrationale Liebe

«Es ist, was es ist, sagt die Liebe.» Diese berühmte Zeile aus einem Gedicht von Erich Fried kommt mir in den Sinn, wenn ich über das nebenstehende Gleichnis nachdenke. 

Denn eigentlich ist das Verhalten des Hirten mehr als unvernünftig, als er seine Herde allein lässt. Es ist wohl auch leichtsinnig und vielleicht sogar unmöglich, im weiten Gelände ein einziges Schaf zu finden. Dennoch geht er los. Sucht und findet schliesslich das eine Schaf. Denn es ist, was es ist: Liebe.

Das Gleichnis erzählt von der völlig irrationalen Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen. Unlogisch, riskant, unvernünftig, aber voller Geduld und Sehnsucht. Kein Mensch soll verloren gehen, niemand ist überflüssig. Auf keine und keinen mag er verzichten.

Eigentlich macht es keinen Sinn, dass Gott uns sucht, ist er doch allwissend und weiss so um unseren Zustand und Aufenthaltsort. Vergleichbar ist das mit dem Versteckspiel bei Eltern und Kindern. Die Eltern wissen meist sehr wohl, wo das Kleinkind sich versteckt, dennoch suchen sie es und sind überglücklich, wenn sie es finden. Durch dieses bewusste Wahrnehmen des Anderen wird Liebe und Zuneigung gezeigt und Vertrauen geweckt.

Gott sucht uns also, genauso wie Eltern ihre Kinder suchen. Er zeigt uns damit, dass wir im Zentrum seines Interesses stehen. Er schreibt keinen Menschen ab und besonders jene, die aus der Reihe tanzen, die verloren gehen, die sich nicht anpassen wollen, sind seiner Liebe gewiss.

Doch was ist eigentlich mit den anderen 99 Schafen? Die schauen nur hinterher, wundern sich vielleicht, warum gerade das abtrünnige Schaf so viel Liebe verdient. Da kommt doch die Frage auf: Warum ist von denen eigentlich keiner mit auf die Suche gegangen? Warum schaut die Herde zu? Ist es überhaupt jemandem aufgefallen?

Fällt es uns auf, wenn einer verloren geht? Sorgen wir uns? Oder laufen wir in der Herde mit und vergessen dabei, den Einzelnen im Blick zu behalten? Wie kann es die Gemeinschaft schaffen, dass keiner und keine vom Weg abkommt?

Text: Esther Stampfer, Pastoralassistentin kath. Pfarrei St. Georg Küsnacht Erlenbach