Inseln im Alltag

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Inseln im Alltag

Wer aktuell eine Ausflucht sucht, könnte Zuflucht in Ritualen finden. Sie schaffen kurzzeitig Inseln in unserem Alltag, sagt Urte Scholz, Gesundheitspsychologin an der Universität Zürich. Sie ermutigt dazu, kreativ zu werden.

Frau Scholz, was hilft Ihnen in dieser Zeit über die Runden?

Die sozialen Kontakte, soweit ich sie pflegen kann: mit meiner Familie, mit der ich zu Hause lebe, und dann auch die Telefongespräche und Videokonferenzen mit Freunden und der weiteren Familie. Zum Ausgleich zu den vielen Online-Meetings mache ich momentan recht viel Sport.

Man sagt, Rituale seien gerade in Zeiten der Unsicherheit wichtig. Bestätigt sich das jetzt, während der Pandemie?

Ich merke, dass wir als Familie gewisse Dinge mehr machen und auch anders als früher. Zum Beispiel essen wir häufiger miteinander, einfach weil wir mehr zu Hause sind. Und dann reden wir, tauschen aus, hören voneinander. Das gibt uns wahrscheinlich eine gewisse Stabilität, die durch die veränderten Umstände gerade nicht mehr so gegeben ist.

Sind Rituale in der Gesellschaft auch wichtiger geworden?

Das ist momentan noch schwer zu sagen, aber es könnte sein. Rituale können ja etwas ganz Kleines sein, das einem kurzzeitig eine Insel schafft. Das kann der Espresso am Morgen sein, den jemand achtsam trinkt und damit in den Tag startet. Oder die Pause immer zur gleichen Zeit, auch im Homeoffice. So etwas ist nicht bloss Routine, sondern ermöglicht, bewusst aus dem Hamsterrad auszusteigen. Gleichzeitig ist wohl genau das ein Problem, dass man selbst zu wenig auf solche bewussten Unterbrechungen achtet.

Machen Sie diese Erfahrung?

Genau. Ich merke, wie sich im Homeoffice Berufliches und Privates stärker vermischen und am Ende arbeite ich mehr als im Büro.

Sie sind Gesundheitspsychologin. Aus Ihrer fachlichen Sicht: Was ist ein Ritual?

Ein Ritual ist eine wiederkehrende Tätigkeit, ein Ereignis, das mit einer Bedeutung versehen ist. Das unterscheidet das Ritual von Gewohnheiten oder Routinen. Gewohnheiten passieren automatisch, ohne dass wir darüber nachdenken. Routinen passieren etwas bewusster und haben die Funktion, dass wir über bestimmte Dinge nicht mehr extra miteinander reden müssen. Rituale gehen da noch einen Schritt weiter und verleihen dem Geschehen eine tiefere Bedeutung.

Was wäre ein typisches Ritual?

Weihnachten, das wir eben gefeiert haben. Es ist gesellschaftlich verankert, selbst wenn man den religiösen Inhalt nicht oder nicht mehr teilt. Auf den Strassen und überall: In der Vorweihnachtszeit sind wir auch 2020 von allen Seiten daran erinnert und daraufhin stark beeinflusst worden, dass nun eine besondere Zeit kommt.

Was können Rituale?

Sie verleihen eine gewisse Sicherheit und Stabilität, weil man weiss, was kommt. Die Bedeutung bleibt gleich und ist bekannt, sie sorgt in der Regel dafür, dass man sich wohl und geborgen fühlt. In sozialen Kontexten erfüllen sie die Funktion, dass die Beteiligten sich unterstützt und zugehörig fühlen.

Was meinen Sie mit «sozialen Kontexten»?

Der soziale Kontext kann die Familie sein, der Freundeskreis oder zwei Menschen miteinander, aber auch eine Gesellschaft.

Braucht unsere Psyche Rituale, um gesund zu bleiben?

Das würde ich nicht sagen. Sie tun sicher gut und sie helfen. Sie sind aber kein Allheilmittel.

Es gibt ja auch einige kritische Einwände gegenüber Ritualen …

… an welche denken Sie?

Zum Beispiel, dass ein Mensch abstumpft und bei einem Ritual mitmacht, nur weil man es schon immer so gemacht hat; dass Rituale etwas Konservatives haben und kreative Kraft aus dem Moment lähmen können, dass es eigentlich Ablenkungsmanöver sind, um sich der eigenen Angst vor der Bedrohung nicht stellen zu müssen – es gibt einige kritische Anfragen.

Das sind natürlich berechtigte Kritikpunkte, vor allem, wenn es um sehr konservative Rituale geht. Es scheint mir wichtig, dass jeder für sich entscheidet, was er oder sie weiter pflegen möchte.

Im Vordergrund steht jene Bedeutung, die ein Ritual für mich persönlich hat, also für mich als Individuum. Wenn keine Bedeutung mehr für mich gegeben ist, wenn ich keine Sinnhaftigkeit mehr aus einem Ritual ziehe, dann sollte ich es nicht weiter aufrechterhalten.

Gibt es diesen Spielraum zur eigenen Entscheidung wirklich? Im privaten Bereich bestimmt. Aber auf gesellschaftlicher und auch religiöser Ebene?

Sicherlich nicht in allen Dingen. Gewisse Abläufe sind tatsächlich so stark normiert, dass es sehr schwierig ist, sich da herauszuziehen. Jemand muss dann schon sehr davon überzeugt sein oder gute Gründe haben, die dann auch angeführt werden müssen.

 «Rituale können etwas ganz Kleines sein, das einem eine kurzzeitige Insel schafft. Das kann der Espresso am Morgen sein, den jemand achtsam trinkt.»

Können wir denn einfach neue Rituale erfinden, wenn wir wollen?

Ja, auf jeden Fall.

Was braucht es dazu?

Zum Beispiel eine Krise. Denn ohne dass wir es wollen oder wir sie uns ausgesucht hätten, erfordert die Krise eine Anpassungsleistung und eine Bewältigung. Das kann geschehen, wenn wir neue Rituale finden.

Ohne Krise keine neuen Rituale?

Es reicht auch eine Veränderung. Wer zum Beispiel eine Familie gründet, baut etwas Neues auf und schafft dabei eigene Rituale.

Heisst das umgekehrt: Wer einen Neuanfang setzen will, kann auch damit beginnen, neue Rituale auszuprobieren?

Das ist sicher ein Weg.

Manche sagen, dass uralte Rituale wirkmächtiger seien, weil sie die Kraft der Geschichte und der Tradition in sich tragen. Auch deswegen, weil viele oder «alle» wissen, wie sie funktionieren. Würden Sie dem zustimmen?

Mag sein, dass manche das so empfinden. Um allerdings das Kernanliegen von Ritualen zu erfüllen – Stabilität, Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln – braucht es den Überbau der jahrhundertelangen Tradition nicht.

Lassen sich Rituale in Online-Meetings übertragen?

Nicht alles lässt sich übertragen, aber doch vieles, und das finde ich beruhigend.

Was beruhigt Sie daran?

Ich glaube, die Situation wäre sonst noch viel dramatischer. Wären die Pandemie und der Lockdown vor der Digitalisierung passiert, zu einer Zeit, als es einzig Telefone gab, aber keine Handys und keine Videokonferenzen: Ich glaube, dass sich die psychischen Probleme noch sehr viel stärker gezeigt hätten. Dass wir einander zumindest sehen können, das ist etwas sehr Wichtiges für uns alle; dass wir soziale Kontakte haben, dass wir uns nicht alleine fühlen und in die Einsamkeit abdriften.

Sie sagten: Vieles lässt sich in den digitalen Raum übertragen, aber nicht alles.

Bestimmte Dynamiken und gerade auch die non verbalen Hinweisreize lassen sich sehr schwer übertragen. Ein Beispiel: In einer Diskussion zusammen in einem Raum würde man normalerweise sehen, dass der A etwas sagen möchte, weil er unruhig auf seinem Stuhl herumrutscht. In der Videokonferenz wird das nicht gut sichtbar.

Ist das schlimm?

Mir fällt auf, dass wir dadurch schlussendlich oft andere Diskussionen führen bzw. die Qualität und die Beteiligung an der Diskussion sich verändert haben. Das andere ist: Ich merke, dass eine Müdigkeit gegenüber Videokonferenzen um sich greift. Manchmal habe ich schon gar keine Lust mehr, nochmals eine Diskussion anzufangen, wenn ich schon seit drei Stunden in einem digitalen Meeting sitze. Dann lasse ich es lieber gut sein.

«Händeschütteln ist ein Ritual, das gesellschaftlich tief verankert ist. Man zeigt sich zugewandt, man schaut sich an, man ist da, man nimmt sich wahr.»

Werden analoge Gesten wie das Händeschütteln wiederkommen?

Ja, das glaube ich auch. Ich bin fest davon überzeugt. Es ist ein Ritual, das gesellschaftlich tief verankert ist. Es hat Bedeutung auf verschiedenen Ebenen: man zeigt sich zugewandt, man schaut sich an, man ist da, man nimmt sich wahr. Da stecken viele Aspekte drin, die durch Winken in die Runde nicht einfach ersetzbar sind. Meines Erachtens gehört das Händeschütteln zur Identität in der Schweiz.

Und es ist ein Moment von echtem körperlichem Kontakt. Es gibt nicht wenige, die aktuell quasi keinen körperlichen Kontakt haben können.   «Augen zu und durch» – oder müssen wir das ernster nehmen?

Ich fürchte, im Moment heisst es «Augen zu und durch». Es gibt ja nicht wirklich eine Alternative.

Was macht das mit uns?

Es gibt Studien, die zeigen: Werden Personen zum Beispiel an der Hand gehalten, dann verringert sich ihr Empfinden von Stress und auch von Schmerz. Das «Hand halten» hat also eine messbare und vor allem spürbare Wirkung. Auch wenn Hand halten länger andauert als das Händeschütteln: Berührungen sind unbestritten einfach wichtig. Gleichzeitig führt das Wegfallen des Händeschüttelns natürlich nicht direkt zu Gesundheitsschäden. Momentan ist es sogar andersherum, die Gefahr für die Gesundheit ist grösser, weil man sich über den Kontakt anstecken kann.

Manchmal entsteht der Eindruck, als könnte das mit Corona eine endlose Geschichte werden. Haben Sie Ideen, sich selbst in diesem «Endlosgefühl» zu strukturieren?

Eine gute Strategie wäre tatsächlich, nicht so viel darüber nachzudenken. Stellen Sie sich vor, Sie laufen einen Marathon: Sie können nicht ständig an die 42 Kilometer denken, sondern Sie setzen sich Etappenziele. Ein Teil-Ziel erreicht zu haben, ist schon mal gut. So würde ich auch versuchen, mit der Pandemie umzugehen.

Warum hilft nachdenken in der Pandemie nicht?

Weil alle Überlegungen spekulativ sind. Wir wissen einfach nicht, wie lange es dauert. Wenn die Impfung kommt, kann es sein, dass es schlussendlich schneller vorbei ist als befürchtet. Deswegen würde ich darüber möglichst wenige Gedanken verschwenden und stattdessen in Etappen denken: bis die Impfung kommt, bis die Impfung bei uns losgeht usw.

Also ein Plädoyer für das Leben im Hier und Jetzt?

Genau. Die Pandemie lehrt uns das Unvorhersehbare. Das spricht sehr dafür, zu lernen, im Hier und Jetzt zu leben.

Was ist Ihre Meinung zu digitalen Gottesdiensten?

Ich glaube auch hier: Es ersetzt das Gewohnte nicht komplett, weil diese «Drum-herum-Dinge» nicht stattfinden können. Zum Beispiel, wirklich in einer Kirche und wirklich in der Gemeinschaft zu sein, sich auszutauschen, der kurze Schwatz beim Hinaus- oder Hineingehen. Trotzdem ist es eine geschickte Art, diese Rituale, die sehr wichtig sind, doch miteinander erleben zu können.

Haben Sie schon einmal digital Gottesdienst gefeiert?

Im Herbst war die Konfirmation meines Neffen. Ich konnte in der Kirche dabei sein. Verwandte, die sonst gekommen wären, haben sich den Gottesdienst hingegen im Internet angeschaut. Natürlich war es nicht das Gleiche, weil sie nachher nicht mit uns gefeiert haben. Aber sie konnten zumindest teilhaben.

Bevor Gottesdienste also nicht stattfinden, sollen sie lieber digital stattfinden?

Das wäre meine persönliche Präferenz, ja. Natürlich muss jede und jeder das für sich selbst entscheiden. Für mich ist es eine ganz gute Alternative für den Moment.

Machen Sie einen Unterschied zwischen religiösen Ritualen und solchen, die keine religiöse Dimension haben?

Von der psychologischen Definition von Ritualen her würde ich keinen Unterschied machen. Alle Rituale bieten Sicherheit und Stabilität, geben Sinn und haben eine Bedeutung. Dass sie eine tiefere Bedeutung haben, leuchtet bei religiösen Ritualen vielleicht noch mehr ein.

Aus welchem Grund?

Gute Frage. Sie erscheinen mir ernsthafter als das persönliche Espresso-Trinken am Morgen. Im Zwiegespräch mit Gott zu sein, das hat für mich eine grössere Schwere.

Gibt es rituelle Bedürfnisse, die ausschliesslich im Kontext des Religiösen erfüllt werden können? Braucht es für gewisse Aspekte die transzendente Dimension?

Rituelle Bedürfnisse sind Sicherheit und Stabilität und dafür braucht es das Religiöse nicht. Religiöse Rituale sind aber eine mögliche Antwort, um Transzendenz zu erleben. Auch da gibt es gewisse Alternativen. Tiefgreifende persönliche Erfahrungen, über die sich ein Mensch ebenfalls mit dem Transzendenten verbunden fühlen kann: zum Beispiel die Geburt eines Kindes. Oder der Nachwelt etwas Bestimmtes zu hinterlassen.

In unserer Kirche feiern wir die heilige Messe: Sie wird seit unzähligen Jahren sozusagen immer und überall gleich gefeiert. Manche haben nun Angst, die Pandemie könnte die Menschen weiter von diesem ehemals gewohnten Ritual entfremden. Ist diese Angst in Ihren Augen begründet?

Nein. Natürlich kann es sein, dass sich jetzt diejenigen abwenden, die dem Ritual ohnehin nicht mehr so verbunden waren. Gleichzeitig würde ich sagen: Gerade die sehr lange Tradition und die starke Verankerung als wichtiger Bestandteil der Kirche lässt dieses Ritual definitiv wiederkommen, wenn die Pandemie vorbei ist.

Was lässt ein tief verankertes Ritual an Bindekraft verlieren?

Wenn es zu konservativ erscheint oder «aus der Zeit gefallen». Das können Faktoren sein, die Menschen nach und nach wegtreiben und sie dazu veranlassen, das Ritual allmählich nicht mehr mitzuvollziehen.

Rituale müssen wachsen, damit sie gesellschaftlich von allen anerkannt werden. Was meinen Sie: Mit welchem Ritual müssten wir dringend beginnen, damit es sich bald etabliert hat?

Ich fände es vermessen, ein Ritual zu nennen, von dem ich möchte, dass es alle anfangen. Ich glaube: Es wäre viel geholfen, wenn wir uns alle ein Ritual suchen würden, das für uns persönlich stimmt. Das Ritual kann ganz individuell ausgestaltet sein. Anspannung, Stress und Negativität – die verständlicherweise stark präsent sind – liessen sich so etwas reduzieren. Würde es uns durch unser Ritual besser gehen, würden wir die Situation wieder etwas positiver sehen können, dann wäre es doch gut, spätestens jetzt damit anzufangen.

Text: Veronika Jehle