Wenn Arbeit die Existenz nicht sichert

Caritas-Woche

Wenn Arbeit die Existenz nicht sichert

Auch in der Schweiz reicht vielen Menschen das Einkommen nur knapp zum Leben. Caritas Zürich unterstützt Personen mit wenig Geld auf vielfältige Weise.

Marianne S.* kämpft seit Jahren mit der Invalidenversicherung. Aus gesundheitlichen Gründen kann sie maximal 20 Prozent arbeiten. Der Stundenlohn, den sie erhält, ist tief. Inzwischen hat sie vor Gericht recht bekommen, doch die IV weigert sich noch immer zu zahlen. Mariannes Mann arbeitet Vollzeit im Detailhandel zum Mindestlohn. Er träumt seit Jahren davon, den Führerausweis zu machen, doch das Geld reicht der kleinen Familie kaum zum Leben, Fahrstunden sind undenkbar.

Seit sieben Jahren ist Herr S. nicht mehr zum Arzt gegangen, da er sich anders die Krankenkassenprämie nicht mehr leisten könnte. Im Frühjahr 2020 bekommt er Coronasymptome. Sein Arbeitgeber verlangt einen Test, damit er weiter arbeiten kann. Testcenter gibt es noch nicht, also muss Herr S. zum Hausarzt. Die Kosten muss er selbst bezahlen. Inzwischen hat Marianne coronabedingt einen ihrer zwei Jobs verloren und erfahren, dass ihr Sohn wegen einer Behinderung Unterstützung braucht. Das Geld reicht hinten und vorne nicht mehr. Die Familie wendet sich an die Caritas und erhält eine einmalige Soforthilfe, um die Arztrechnung zu bezahlen.

Die Unterstützung der Caritas bedeutet Marianne viel. Dank der KulturLegi können sie und ihr Mann ein bis zweimal im Jahr einen Ausflug mit ihrem Sohn machen. An seinem letzten Geburtstag konnten sie sogar ins Connyland. Leider gibt es in der Gemeinde, in der sie wohnen, nur ein Angebot, das mit der KulturLegi vergünstigt genutzt werden kann. Es wäre schön, wenn das Freibad um die Ecke eine Vergünstigung anbieten würde, damit sie dort auch mal hinkönnten.

Wenig Geld haben bedeutet viel Verzicht, ständig rechnen und immer vorausschauen müssen. Wenn jede 20er-Note zählt, ist es schwer, Freunde zu sich einzuladen. Was werden die Gäste sich denken, wenn wir ihnen schon wieder Reis mit Sauce auftischen? Dabei ist der Familie Gastfreundschaft wichtig. Besonders in Bezug auf die eigenen Kinder sei das Leben am Existenzminimum mit Traurigkeit verbunden, sagt Marianne. Ihr Sohn ist in einem Alter, in dem er beginnt, zu seinen Gspänli heimzugehen. Dort stellt er fest, dass es bei ihnen daheim anders ist.

Marianne wünscht sich, nicht vorschnell verurteilt zu werden. Manchmal brauche es nur die eine Person im Leben, die einem eine Chance gebe, egal was für einen Namen man habe, egal wie man aussehe. Ihr Mann zum Beispiel arbeite trotz prekärer Bedingungen hoch motiviert. Seine Arbeitszeugnisse sind sehr gut und die Stammkunden schätzen ihn. Er bräuchte schlichtweg einen Menschen, der ihm die Chance gewährt, sich zu beweisen, um aufzusteigen, vielleicht eine Lehre zu machen.

Wenn Marianne so viel Geld zur Verfügung hätte, wie sie wollte, würde sie ihrem Sohn eine gute Zukunft ermöglichen. Vor allem würde sie ihm eine Schule bezahlen, die auf die Bedürfnisse seiner Behinderung spezialisiert ist. Mit dem übrigen Geld würde sie anderen Menschen helfen und im Tierschutz arbeiten.

Patrizia E.* hätte gern Chinawissenschaften studiert und an einer Universität gelehrt. Doch sie arbeitet für 19 Franken pro Stunde auf Abruf bei einer Fastfood-Kette. Es war der einzige Arbeitgeber, der sie als alleinerziehende Mutter anstellte. Alle anderen lehnten sie ab. Die Begründung: Es bestehe die Gefahr, dass sie nicht flexibel einsetzbar sei, wenn ihre Kinder krank würden.

Patrizias Alltag ist streng durchgeplant. Sie kümmert sich nicht nur um ihre beiden Kinder (3 und 5 Jahre), sondern auch um ihre Mutter. Zeit für sie selbst bleibt keine. Nachdem sie schwanger wurde, wandten sich Freunde und Verwandte ab. Patrizia steht mit allem alleine da. Dass die Leute sie seltsam anschauen, wenn sie den Caritas-Markt betritt, damit hat die junge Mutter sich abgefunden. Geht sie in den Denner um die Ecke, wo die Preise noch tiefer sind, sieht sie keiner schräg an. Nur an den Nachbarn, der sie als faule Schmarotzerin beschimpfte, weil sie in einer Notwohnung wohnte, konnte sie sich nicht gewöhnen und zog um.

Die Angebote der Caritas sind für Patrizia Lichtblicke im grauen Alltag. Besonders schätzt sie die KulturLegi, da sie ihrer Familie Teilhabe an kulturellen Angeboten ermöglicht. Dank der Legi kann sie mit ihren Kindern im Sommer vergünstigt in die Badi. Wenn die Freunde im Kindergarten erzählen, was sie in den Ferien Schönes unternommen haben, können auch Patrizias Töchter einmal sagen: «Wir waren im Kindermuseum.» Oder: «Wir waren im Zoo.» Auch Bücher und Weihnachtsgeschenke erhalten sie über die Caritas. Denn das ist das Schlimmste als alleinerziehende Mutter: Die Kinder möchten etwas, das die anderen haben, aber man kann es ihnen nicht kaufen. Für sie da sein, kann man auch nicht richtig, während man sich sorgt, woher das Geld für die Winterstiefel kommen soll. Patrizia liebt die Oper. Mit der KulturLegi könnte sie sogar nicht verkaufte Opernkarten erwerben. Es fehlt nur die Zeit.

Seltene freie Augenblicke erhält die alleinerziehende Mutter dank des Patenprogramms «mit mir». Bei ihren jeweiligen Paten dürfen sich die Töchter endlich einmal als Prinzessin fühlen. Endlich stehen nur sie im Mittelpunkt und müssen nicht wie sonst alles teilen. Die Paten schaffen es, die Isolation, welche die Familie verspürt, für einige Stunden aufzuheben.

Patrizia ist dankbar um gemeinnützige Vereine, die Menschen am Existenzminimum unterstützen. ArbeitgeberInnen sollten alleinerzie-henden Müttern und Vätern eine Chance geben und WählerInnen sollten sich für bezahlbare Betreuungsplätze auch vor dem Kindergartenalter einsetzen, damit die Kinder nicht in Armut aufwachsen müssen, weil ihre Eltern nicht arbeiten können, ist sie überzeugt.

Was sie machen würde, wenn sie so viel Geld zur Verfügung hätte, wie sie wollte? So viel mehr bräuchte es gar nicht. Als Erstes würde sie Geld für die Zukunft ihrer Kinder anlegen. Mit dem Rest würde sie sich ein Standbein aufbauen. Wenn sie ganz viel Geld hätte? Sie lacht und ihre Augen leuchten: eine Asienreise.

*Namen geändert

Text: Miriam Bastian, freie Mitarbeiterin