Als Brückenbauer im Spannungsbogen

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Als Brückenbauer im Spannungsbogen

Drei Monate nach seinem Rücktritt blickt Josef Annen auf elf Jahre im Generalvikariat zurück und wünscht der Zürcher Kirche bald einen guten Bischof – und die Freude des Evangeliums. 

Der ehemalige Generalvikar lädt zum Gespräch in seiner Stube, mit Blick auf einen hellen, sonnigen Wintergarten. Hier hängt eine Uhr mit Abbildungen von Vögeln, deren Gezwitscher jeweils statt des Stundenschlages zu hören ist.

Josef Annen, sind Sie ein Vogelfan?

Ich beobachte sie gerne, es ist erstaunlich, wie viele Vögel es in den alten Bäumen hier mitten in der Stadt gibt. Die Uhr habe ich vom Synodal- rat zum Abschied bekommen. In unserer Nachbarschaft befindet sich das Büro von BirdLife Schweiz, mit ihnen habe ich schon interessante Gespräche geführt, so ist mein Wissen um die Vögel gewachsen.

Sie mussten aus gesundheitlichen Gründen auf Ende November zurücktreten. Wie geht es Ihnen?

Im Sommer wurde ich 75 Jahre alt und habe damit das kirchliche Pensionsalter erreicht. Ich habe meinen Rücktritt eingereicht, aber Bischof Peter Bürcher bat mich, zu bleiben, bis seine Nachfolge geregelt sei. Im Herbst hat mein Körper dann klare Signale gegeben, so dass mein Arzt mir dringend ab sofort Ruhe verordnete. Jetzt geht es besser, ich kann wieder schlafen, die Kräfte kommen zurück.

Hat Sie die schwierige Situation im Bistum aufgerieben?

Ich habe meine Arbeit immer gern gemacht. Ich verstand mich als Brückenbauer: in Zürich betonte ich, dass wir nicht allein sind als staatskirchenrechtlich verfasste Kirche, und in Chur sagte ich, dass auch die Bistumsleitung sich um eine einvernehmliche Zusammenarbeit mit den kantonalen Körperschaften bemühen sollte. Die Bereitschaft zu einer guten Zusammenarbeit ist von beiden Seiten gefordert, aber das war nicht immer einfach. Mit zunehmendem Alter kostete das sicher auch mehr Kraft.

Ihre ganzen elf Jahre im Generalvikariat Zürich/Glarus waren von diesen Spannungen geprägt …

Die Spannungen waren schon vorher da. In Zürich ist einfach eine andere Dynamik, mit allen kirchlichen Fachstellen und Institutionen, da waren wir mit vielen guten und wichtigen Vorlagen voraus. Diese Informationen nach Chur zu bringen und um Zustimmung zu werben, war ein spannungsvolles Unterfangen.

Man könnte auch sagen, die Kirche im Kanton Zürich agiert unabhängig vom Bistum?

Viele Entwicklungen sind in den 90er Jahren angestossen worden, als unter Bischof Wolfgang Haas ein völliges Vakuum herrschte. In dieser Zeit entstand die Notwendigkeit einer Neuorganisation der Mittelschulseelsorge, der Jugendseelsorge, der Fachstelle für Religionspädagogik usw. Diese kantonal organisierten Seelsorge-Dienststellen – die heute segensreich wirken – wurden damals oft nicht in Absprache mit Chur errichtet, weil das Zerwürfnis zu gross war. Das hat mit dazu beigetragen, dass die Bistumsleitung in Chur bis heute gegenüber Zürich skeptisch blieb.

Sie haben das duale System, das Miteinander von innerkirchlicher und staatskirchenrechtlich verfasster Kirche, immer unterstützt.

Ja, das ist mir wichtig, denn das ist ein Ort der Mitsprache der Gläubigen, der Männer und Frauen in der Kirche. Die Kirchensteuergelder müssen in demokratischer Weise verwaltet werden, da könnten wir im innerkirchlichen Bereich viel lernen. Deshalb war ich auch immer in der Synode präsent, abgesehen davon, dass die Kirchenordnung das vorsieht. Ich wollte damit auch zeigen, wie sehr ich die Arbeit dieses Gremiums schätze, und ich habe mich gefreut, dass der Synode auch meine beratende Stimme wichtig war.

Inwiefern könnte der innerkirchliche Bereich davon lernen?

Das Thema ist ja jetzt gerade in aller Munde: es geht um mehr Synodalität in der Kirche. Dass nicht nur die Amtsträger alle Machtkompetenz haben und alle Entscheidungen fällen, sondern die Gläubigen einbezogen werden. Ich hoffe sehr, dass wir Schritte machen in diese Richtung, das ist ganz wichtig.

Dieses Miteinander war Josef Annen auch in der Führung seines Teams im Generalvikariat wichtig. Um Weihnachten hat er seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jeweils zu sich nach Hause eingeladen und bekocht. Dafür bekam er eine Küchenschürze mit dem eingenähten Ehrentitel «Chefkoch vom Generalvikariat Zürich-Glarus».

Sie kochen gerne – haben Sie jetzt Zeit dafür?

Ich stehe gerne für Gäste in der Küche. Für mich allein zu kochen, das ist nicht die gleiche Freude. Zusammen am Tisch sitzen, Gemeinschaft erleben, das hat für mich auch die tiefere Bedeutung der christlichen Mahlgemeinschaft. Jetzt während der Pandemie ist es allerdings schwierig, Gäste einzuladen, was ich sehr bedaure.

Vor Ihrer Zeit als Generalvikar waren Sie Regens im Priesterseminar in Chur, noch vorher in der Jugendseelsorge. Was bedeuten Ihnen junge Menschen?

Die Zeit als Jugendseelsorger hat mich gelehrt, dass wir den Glauben und die Gottesbeziehung den Menschen nicht «anschwatzen» müssen. Wir haben vielmehr eine «Hebammenaufgabe», wir entdecken gemeinsam, was schon da ist, und heben es ans Licht: ich bin nicht einfach zufällig da, sondern bin geliebt, ein Kind Gottes. Auch später als Generalvikar hatte ich in all den Gesprächen mit den Firmlingen nie den Eindruck, dass ich von etwas rede, das sie nicht betrifft. Der Glaube ist unausgesprochen im Herz der Heranwachsenden da. Dies gemeinsam zu entdecken, war immer toll.

Als Regens war die Priesterausbildung Ihr Thema. Wie sollte ein Priester heute sein?

Als Priester habe ich als Erstes eine positive Einstellung zum Leben und zur Welt und denke nicht, die Welt sei des Teufels. Wir alle sind als Geschöpfe Gottes unterwegs, wir können das Evangelium in den Pfarreien leben, das ist etwas Faszinierendes. Wir sollten nicht an den Strukturen, an frommen Zeremonien oder sonst etwas hängen, sondern am Evangelium, an der Frohen Botschaft!

Müssen Priester zwingend leiten?

Nein, wir haben jetzt schon Pfarreibeauftragte. Nur wurde das mit der kürzlich veröffentlichten Instruktion der Kleruskongregation wieder in Frage gestellt. Dabei ist im Kirchenrecht vorgesehen, dass Laien Leitungsaufgaben übernehmen können, wenn kein Pfarrer gefunden wird. Und das ist in einem Drittel unserer Pfarreien so.

Das ist eine Schweizer Spezialität …

In Deutschland entstehen nun riesige Pastoraleinheiten mit bis zu 15 und mehr Pfarreien, wo der einzige Priester dann der Super-Manager ist. Ich habe mich immer dafür engagiert, dass die Pfarreien als lebendige Zellen erhalten bleiben. Die Kirche muss bei den Menschen sein, und das ist nur möglich im Miteinander von engagierten Männern und Frauen, die sich für den Dienst in der Kirche zur Verfügung stellen, und den verantwortlichen Priestern. Ich stehe voll hinter unserem Weg, der die Leitungsaufgaben aufgliedert.

Es gibt Spannungen im Bistum, aber auch Konflikte in den Pfarreien …

Ja, manchmal liegen die Nerven blank: Die Vorstellungen der Kirchenpflege und des Seelsorgeteams sind unterschiedlich. Es gibt Übergriffe von Seelsorgenden in die Aufgaben von Kirchenpflegen und umgekehrt. Mithilfe unserer Stelle für Supervision, Coaching und Mediation versuchen wir zu vermitteln. Eingreifen konnte ich aber in gewissen Situationen nur nach Absprache mit dem Bischofsrat, dessen Einschätzungen nicht immer gleich waren wie meine. Wenn aber Fakten auf dem Tisch lagen, z.B. finanzielle Ungereimtheiten vorlagen, musste ich handeln.

Was hat Sie in diesen elf Jahren besonders gefreut?

Wir sind in vielen Pfarreien personell gut aufgestellt, die Zusammenarbeit in den Seelsorgeteams klappt wunderbar. Ich freue mich, wie professionell die Dienststellen arbeiten, zum Beispiel die Spitalseelsorge, die heute mit dem Pflegepersonal und den Ärzten zusammenarbeitet. Im Gesundheitswesen sind wir auch in Forschung und Lehre präsent. Migrantenseelsorgen und Pfarreien arbeiten besser zusammen. Dass der Verband orthodoxer Kirchen im Kanton Zürich zustande kam, haben wir stark unterstützt und ist ein wichtiges Zeichen in unserer Gesellschaft.

Was würden Sie Ihrem Nachfolger sagen?

Ich habe einen ganzen Ordner hinterlassen für den neuen Generalvikar. Hier ist festgehalten, wie das Generalvikariat strukturiert ist, und er bekommt Einblick in die Kommissionen und Gremien. Darüber hinaus würde ich ihm sagen: Du kommst in ein wundervolles Team, du bist nicht allein. Im Generalvikariat arbeiten engagierte Frauen und Männer, die hochprofessionell arbeiten. Ich konnte mich völlig auf sie verlassen. Miteinander könnt ihr viel erreichen.

Was machen Sie in nächster Zeit?

Ich geniesse es, all die Bücher zu lesen, die ich zum Abschied bekommen habe. Sobald es wieder möglich ist, möchte ich Freunde sowie meine Geschwister mit ihren Familien besuchen und einladen, wandern und die Kultur genies-sen. Gerne werde ich da und dort Aushilfen machen in den Gottesdiensten. In St. Peter und Paul sind Alterswohnungen geplant, dort habe ich mich angemeldet.

Was wünschen Sie der Zürcher Kirche?

Natürlich hoffe ich, dass wir bald einen guten Bischof für das Bistum bekommen. Das lange Warten ist für die Pfarreien und die Gläubigen mehr als mühsam. Deswegen gibt es viel Resignation und Müdigkeit. Die Kirche ist doch kein Selbstzweck, sondern dazu da, die Freude des Evangeliums unter die Leute zu bringen: Du Mensch, du bist nicht nur ein Zufallsprodukt, du bist mehr, du bist von Gott geliebt. Diese Liebe will sich teilen, sie drängt zum Nächsten, zur Solidarität, im Kleinen und im Grossen. Das ist das Evangelium – eigentlich etwas ganz Einfaches.

Es ist 16 Uhr. Aus dem Wintergarten ertönt der fröhliche Stunden-Gesang der Gartengrasmücke. Ein Zugvogel, der im Sommer in unseren Gegenden weilt, wie Josef Annen weiss.

Text: Beatrix Ledergerber