Da sein für Menschen, die  keinen Platz haben

Im Züripiet dihei

Da sein für Menschen, die keinen Platz haben

Die Not auf der Gasse auch in Zürich steigt mit jedem Tag. Beratung, Unter­stützung und Mahlzeiten von Solidara Zürich sind gefragter denn je.

Zwei Senioren sind an einem Tisch ins Gespräch vertieft. Ein Herr mit einem riesigen Papier-Zylinder auf dem Kopf sitzt mit seiner Kaffeetasse in der Mitte des Raumes. Im hinteren Zimmer arbeitet jemand am Computer, andere schauen ins Handy, man hört verschiedene Sprachen. Im kleinen Raum dazwischen schliesst Menzingerschwester und Sozialbegleiterin Judith Hunn die Tür für ein Beratungsgespräch. Die junge Aushilfe versorgt das Geschirr und bringt die Suppe an den Tisch.

Das Café Yucca ist trotz aller Beschränkungen offen. «Wir sind kein Restaurant, sondern eine systemrelevante soziale Institution», erklärt Teamleiter Kurt Rentsch. «Wir sind da für Menschen, die sonst nirgends einen Platz haben. Wer hierher kommt, ist zu nichts verpflichtet, ausser aufs Einhalten der Hausordnung.» Sozialarbeiterin Angela Lagler erzählt: «Heute Morgen war eine Seniorin hier, die vor fünf Jahren ihre Wohnung verloren hat. Seither irrt sie von Institution zu Institution, doch immer wieder fliegt sie raus, weil sie nicht erträgt, wenn über sie bestimmt wird.» Im Yucca hört ihr Angela Lagler zu, bis ihre Aufregung verraucht, und schlägt vor, alle ihre Bezugspersonen an einen Tisch zum Gespräch einzuladen. «Aber auch das will sie nicht», sagt Lagler, und somit gibt es nichts anderes, als ihre Entscheidung zu respektieren und mit ihr die Ohnmacht auszuhalten.

Dabei verliert die Sozialarbeiterin ihren Humor nicht: «Ich lache viel, das hilft, Distanz zu bewahren und auch in ausweglosen Situationen etwas Positives zu entdecken.» Kurt Rentsch mit seinen 27 Jahren Berufserfahrung lässt am Abend die Yucca-Geschichten bewusst hier und nimmt sie nicht mit nach Hause. Er zeigt ans Kreuz, das an der Wand hängt: «Für mich persönlich ist das wichtig. Hier kann ich alles deponieren, wenn ich nicht weiterweiss, und kann glauben, dass jemand anderer für seine Menschen schaut», sagt der Theologe.

Aus diesem Da-Sein kann ein innerer Prozess entstehen, der zu einer Lösung führt. Angela Lagler erzählt: «Einer unserer Gäste hatte keine Krankenkasse, keine Ergänzungsleistungen, nur die AHV. Warum? Da mussten wir viel Detektivarbeit leisten, bis alle Puzzleteile zusammenkamen. Wir haben eine Krankenkasse gefunden, und ich habe ihn persönlich zum Sozialamt begleitet, so dass er nun die ihm zustehenden Leistungen bekommt.» Das gefällt ihr an ihrer Arbeit: «Wir haben im Rahmen unserer Ressourcen viel Freiheit, können kreative Lösungen finden und müssen ein wenig Querdenker sein.» Dabei übernehme sie aber nie das, was die Gäste selber tun können: «Wer mich bittet, ihm seinen Lebenslauf zu schreiben, dem gebe ich Papier und einen Stift und sage, er kann mich fragen, wenn er nicht weiterkommt. Wer sagt, ich solle für ihn auf irgendein Amt telefonieren, dem gebe ich den Telefonhörer in die Hand.»

Normalerweise haben im Yucca 50 Leute Platz, jetzt dürfen nicht mehr als 27 Leute im Raum sein, natürlich mit Maske und Abstand. Auch liegen Listen auf für das Contact-Tracing. Das ist jedoch schwierig: «Viele unserer Gäste sind obdachlos, haben weder Computer noch Handy»,  sagt Angela Lagler. «Trotzdem machen wir eine Liste, damit wir im Notfall die Leute informieren können, wenn sie das nächste Mal bei uns sind.» Die Leute abzuweisen, wenn der Raum voll ist, sei schon hart, sagt Kurt Rentsch. «Wir sind die Einzigen, die abends bis 22 Uhr offen sind. Es gibt einen extremen Druck, wir müssen mehrmals die Türen schliessen und mit einem Zettel die Leute bitten, später wiederzu- kommen.» Zum Glück seien viele Gäste rücksichtsvoll und würden gehen, wenn sie sehen, dass andere hereinmöchten.

«Immer schwieriger wird auch die Situation für Frauen im Sexgewerbe», sagt Geschäftsführerin Beatrice Bänninger. Sie ist auch Teamleiterin von Isla Victoria, der Beratungsstelle von Solidara Zürich für Sexarbeitende, die eine «Schutzinsel» im oft anstrengenden Alltag der Frauen im Sexgewerbe ist. «Hier können sie unter sich sein, sich austauschen und erfahren Respekt. Das Isla-Team begegnet den Sexarbeitenden auf Augenhöhe und steht ihnen mit professioneller Beratung zur Seite», sagt Bänninger. «Nun sind viele Frauen völlig am Ende. Von jenen, die im Lockdown im Frühling nach Hause gegangen sind, hören wir, dass es ihnen dort noch schlechter geht. Sie wühlen im Abfall, um irgendetwas zu finden.» In der Schweiz gibt es zumindest die staatliche Nothilfe, die von Isla Victoria in ihrem Lokal im Kreis 4 ausbezahlt wurde, in Kooperation mit dem kantonalen Sozialamt Zürich und dem Sozialdepartement Zürich. «Da standen die Leute in langen Schlangen dafür an, jeden Tag wurden es mehr.» Der Mittagstisch von Isla Victoria wurde in einen Take-away umgewandelt. Drei Mal in der Woche werden 150 Mahlzeiten pro Mal gratis abgegeben, dazu Tausende von Schutzmasken und Desinfektionsmittel. Doch auch das reicht nirgends hin: «Es drückt einem das Herz ab, wir haben nicht ausreichende Ressourcen und müssen oft entscheiden, wem wir helfen können und wem nicht», sagt die Anwältin, die früher den Rechtsdienst einer grossen Kommunikationsfirma geleitet hat und bewusst in eine «sinnstiftende Tätigkeit» wechseln wollte.

Während auf Bundesebene die Prostitution nach dem Lockdown wieder – unter Schutzauflagen – erlaubt wurde, gilt im Kanton Zürich seit dem 10. Dezember ein rigoroses Verbot. «Auf der ganzen Welt versuchen einige Länder die Prostitution zu verbieten – es klappt nirgendwo, weil immer eine Nachfrage da ist», sagt Bänninger realistisch. «So wird nur die Not grösser.» Dabei hilft Isla Victoria natürlich allen Frauen, die aus dem Sexgewerbe aussteigen möchten. «Doch da findet man im Moment gar nichts: die Gastro-, Event- und Reinigungsbranche liegen ja auch am Boden.» Wo ihr Team am meisten bewirken kann, ist im Augenblick die Beratung für selbständig Erwerbende, die eine Erwerbsausfall-entschädigung geltend machen können, das oft aus Angst aber nicht tun.

«Wir machen, was wir nur können, dieses Jahr hatte Isla Victoria ausnahmsweise auch zwischen Weihnacht und Neujahr offen, da die Frauen sonst nirgendwo hinkonnten.» Bei diesem für alle fast übergrossen Einsatz habe die Aktion von «We Come Back Stronger» unendlich gut getan: Die jungen Leute kamen überraschend an die Sitzungen des Yucca- und des Isla-Teams und brachten als Anerkennung und Mutmacher Torten für alle mit. «Das gibt Kraft, denn die schwierige Zeit dauert an», schliesst Bänninger.

Text: Beatrix Ledergerber