Libanon: Ein Land am Anschlag

Bericht aus Jerusalem

Libanon: Ein Land am Anschlag

«Die Triage hat begonnen!», schrieb in diesen Tagen eine libanesische Zeitung, für die Krankenhäuser komme jede Hilfe zu spät. 

Die Coronavirus-Pandemie scheint das Siegel zu sein auf dem Schicksal des angeschlagenen libanesischen Gesundheitssystems. Das Land durchlebt seine bisher schlimmsten Wochen seit dem Auftauchen des Covid-19-Virus: Täglich neue Rekordzahlen werden bei Neuinfektionen und Todesfällen vermeldet. Mehr als 2000 Menschen starben bisher an dem neuartigen Coronavirus. Die Krankenhäuser sind überfüllt, Betten insbesondere auf den Intensivstationen knapp. Geld fehlt für die dringend benötigten Aufstockungen, denn das Land ist pleite. Stundenlang und nicht selten vergeblich sollen Patienten vor den Krankenhaustüren auf Aufnahme warten, und dies bei mittlerweile sehr winterlichem Wetter. Auf einen halben Lockdown folgte eine drastische Ausgangssperre. Selbst Supermärkte mussten geschlossen bleiben. Der Einkauf von Impfstoff scheiterte zunächst an der Rechtslage. Erst eine Gesetzesänderung Mitte Januar ermöglichte den Deal. Ob die Regierung jedoch genug Gelder für eine flächendeckende Impfung aufbringen kann, bleibt fraglich.

Beirut, Oktober 2019. Foto: Andrea Krogmann
Beirut, Oktober 2019. Foto: Andrea Krogmann Foto:

Unter den Libanesen schüren die Auswirkungen der Pandemie die Wut auf die regierende Klasse noch zusätzlich. Denn auch an allen anderen Ecken kriselt es unter den Zedern gewaltig. Eine funktionierende Regierung gibt es schon lange nicht mehr. Wirtschaft und Banken liegen am Boden, Inflation und Arbeitslosigkeit plagen mittlerweile nicht mehr nur die ärmeren Bevölkerungsschichten. Der Eiertanz am Rande des Kollapses ist längst Alltag geworden. Die Gründe für die dramatische Lage sind schnell benannt, Änderung nicht in Sicht: Jahrelang beherrschte Misswirtschaft die politische Bühne, auf der sich eine Handvoll angestammte Dynastien die Macht teilen, Korruption ist an der Tagesordnung – Zustände, die im Oktober 2019 die Libanesen zu Zehntausenden wieder und wieder auf die Strasse trieben. Die verheerende Explosion im Hafen von Beirut, auch sie durch Fahrlässigkeit der Regierenden mitverursacht, tat das Übrige zum Absinken des Landes in die Misere.

Beirut, Oktober 2019. Foto: Andrea Krogmann
Beirut, Oktober 2019. Foto: Andrea Krogmann

Wieder und wieder stellte und stellt sich der maronitische Patriarch Kardinal Béchara Raï hinter die Forderungen der Strasse. Er verleiht seine einflussreiche Stimme der von einer breiten Masse vorgebrachten Kritik am herrschenden System wie an den Herrschenden selbst. Wieder und wieder appelliert er an das Gewissen der Politiker, kritisiert ihre Weigerung, persönliche Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen, fordert eine «aktive Neutralität» des Landes und scheut sich auch nicht, sich mit den mächtigen schiitischen Kräften anzulegen.

Bisher verklingen alle Mahnungen und Forderungen ungehört. Doch während sich nationale und internationale Beobachter noch fragen, wie das Land aus der Krise zu holen sei und welches Libanon am Ende von Pandemie und anderen Nöten stehen wird, haben manche Libanesen ihr Schicksal längst in die eigene Hand genommen. Wer kann, wandert aus. Die Triage, möchte man sagen, hat auch hier begonnen.

Text: Andrea Krogmann