Schlagzeilenmüde

Narrenschiff

Schlagzeilenmüde

Ich bin coronamüde. Wer ist das schon nicht. Noch ausgeprägter ist jedoch meine Corona-Schlagzeilenmüdigkeit. 

Haben unsere Tageszeitungen eigentlich eine Mindestzahl an Schlagzeilen definiert? Gefühlt sind es pro Medium 50 Corona-Schlagzeilen pro Tag, die Ticker-Updates nicht eingerechnet. Wenn ich also täglich nur dreimal die aktuellen Fallzahlen studiere, fühle ich mich fahrlässig desinteressiert.

Und so geht mir allmählich der Schnauf aus. Jeder Corona-Spezialist – und die werden schneller produziert als Impfdosen – versorgt mich als selbst ernannte Task-Force permanent mit Expertise. In den Redaktionen versuchen sich turnusmässig sämtliche Mitglieder als Kassandra. Damit jede und jeder mal sagen darf, was Sache sein wird.

Ein besonderes Schauspiel sind die Pressekonferenzen des Bundesrates. Dort werden nicht nur kritische Fragen zu den Beschlüssen des Bundesrates und ihren Beweggründen gestellt. Noch beliebter ist die Kategorie «Future News»: Welche Schlagzeile kann der Bundesrat für die Ausgabe in zwei Wochen garantieren.

René Clair hat vor vielen Jahren die Komödie «It Happened Tomorrow» gedreht. Darin erhält ein Journalist auf wundersame Weise Einblick in die Ereignisse des nächsten Tages. Nun sind seine Schlagzeilen der Konkurrenz immer eine Nasenlänge voraus. Bis ihm sein eigener Tod prophezeit wird. Ab sofort versucht er verzweifelt, die Schlagzeile von morgen zu verhindern.

Diese Geschichte hat Clair 1944 erzählt. Und er hat sie nochmals 50 Jahre zuvor, in den 1890ern angesiedelt. Damals war das Telefon der letzte Schrei der Kommunikationstechnik.

Verändert hat sich seither dennoch wenig. Dafür beschleunigt. In unserer digitalen Medienwelt erscheint die Schlagzeile von morgen arg betulich. Journalismus, der über das, was war und ist, berichtet, es einordnet, durchleuchtet und kommentiert, ein solcher Journalismus ist hoffnungslos vorgestrig.

Ich habe allerdings Zweifel, ob sich das Zuwenig an Impfdosen durch das Zuviel an Schlagzeilen ausgleichen lässt. Als Schutzmassnahme funktionieren sie bei mir jedenfalls nicht. In meinem ohnehin nicht sehr ordentlichen Gehirn löst das Schlagzeilengewitter eher Verwirrung aus. Heute fühle ich mich schlechter informiert als vor einem Jahr. Weil ich fast nur noch Schlagzeilen lese. Und weil mich bereits das überfordert, spare ich mir den Rest. Was bleibt, sind also Schlagzeilen. Auf volle Lautstärke gedreht. Auf Reichweite getaktet. Und in ihrer Übermorgigkeit nicht selten irreführend oder schlicht falsch.

Da es mir an Selbstdisziplin fehlt, wäre es für mich ein Segen, wenn der Bundesrat als zusätzliche Schutzmassnahme eine Schlagzeilenquote fest-legen würde. Und wenn ich schon am Wünschen bin: Könnte die Empa nicht einen Minimalstandard an Denkleistung für Querdenker definieren?

Text: Thomas Binotto