Orgel mit Schlagzeug – aber ohne Orgelpfeifen

Im Züripiet dihei

Orgel mit Schlagzeug – aber ohne Orgelpfeifen

Auch das zweite Konzert «Organ meets Drums» in der Katholischen Kirche Birmensdorf spürt der Musik des Elektro-Pioniers Jean-Michel Jarre nach. 

Grosse gelbe Augen in Figuren, die an die Minions erinnern, bewegen sich – an die Wand projiziert – hinter dem Schlagzeug. Konzentriert und nach innen horchend sucht Drummer Martin Hämmerle nach dem Rhythmus und der Lautstärke, die zum Spiel von Wolfgang Bolsinger an der Orgel passen. Ein grosses Bild vom heiligen Martin, Patron der katholischen Kirche in Birmensdorf, hängt über dem Orgeltisch, Martins Mantel fast im gleichen Rot wie Bolsingers Jackett. In diese Sichtbeton-Kirche aus den 70er Jahren passt die Elektro-Musik von Jean-Michel Jarre, die der Birmensdorfer Kirchenmusiker Bolsinger für die Orgel arrangiert hat. Die zwei Künstler proben für ein Musik-Video, das am selben Abend aufgenommen und an Ostern ausgestrahlt werden soll. 

Was man im Kirchenraum vergeblich sucht, sind die Orgelpfeifen – obwohl die Töne, die Bolsinger aus den Tasten der vier Manuale zaubert, durchaus echt wirken. «Wir haben hier die erste und bisher einzige elektronische Orgel in dieser Grösse in der Schweiz», sagt Bolsinger stolz. Sie stammt von der holländischen Firma Content und steht seit 2019 in der katholischen Kirche Birmensdorf. Bis dahin stand in der Kirche eine kleine Pfeifenorgel, die in die Jahre gekommen war und nicht mehr saniert werden konnte. «Eine neue grosse Pfeifenorgel passt hier gar nicht in die Kirche, die dafür zu wenig hoch ist, und wäre auch viel zu teuer gewesen», erklärt der Kirchenmusiker. «Und eine kleine Orgel, wie wir sie bisher hatten, ist halt einfach sehr beschränkt in ihren Möglichkeiten.» So fiel die Wahl der Kirchenpflege auf eine elektronische Orgel. Mit ihren vier Mal 76 Registern in den Klangfarben Barock, Klassisch, Romantisch und Symphonisch bietet sie alles, was das Organistenherz begehrt. «Sie klingt trotzdem echt, weil die Töne nicht wie noch vor zehn Jahren elektronisch erzeugt werden, sondern einzeln von echten Instrumenten aufgenommen wurden und jetzt als Samples beim Spielen abgerufen werden», erklärt Bolsinger. 

Nicht nur die Orgelpfeifen sucht man vergebens, auch die Lautsprecher sind nicht zu finden. Woher sonst soll der Klang von elektronischer Musik in den Kirchenraum gelangen? «Sie sind alle im Orgeltisch versteckt», schmunzelt Bolsinger: «Darin sind 36 Lautsprecher eingebaut, die oben, links und rechts vom Spieltisch sowie unter den Manualen die Klangwellen übertragen.» Als die Orgel installiert wurde, sei der ganze Kirchenraum ausgemessen und die Lautsprecher genau auf die Raumgeometrie hin ausgerichtet worden. Was noch fehlt, sei ein Audiosystem mit einer Bassbox, die von der Decke hängen soll – «damit der Ton wie bei einer Pfeifenorgel auch von oben und nicht nur von vorne kommt». 

So begeistert wie der Kirchenorganist ist auch Pfarrei-Mitglied Manfred Darm von dieser ungewöhnlichen Orgel. Der pensionierte Verkaufsleiter eines grossen Nähmaschinenherstellers hat die Orgelmatinée zur Segnung der neuen Orgel vom 19. Januar 2020 spontan auf Video aufgenommen – so gut, dass Bolsinger ihn bat, das erste wegen Corona gestreamte Konzert «Organ meets Drums» vom vergangenen 18.  Oktober auch aufzunehmen. Denn nicht nur die Musik, sondern auch die Lichtshow sollte ihre Wirkung entfalten können. Das Video auf Bolsingers Youtube-Kanal «vox sacra» wurde über 3000 Mal aufgerufen – was natürlich die Kapazität von Konzertbesuchenden in der Kirche um einiges übersteigt. Vor allem hätten sich auch viele Fans der Musik des Elek-tro-Pioniers Jean-Michel Jarre aus aller Welt das Video angesehen und auch Feedbacks gegeben, sagt Bolsinger: «Viele fanden es spannend, Jarres Musik arrangiert für Orgel und Drums zu hören.»

Das Echo – auch aus der Kirchgemeinde – war so positiv, dass Bolsinger nun ein zweites Konzert auf die Beine stellt. Vorgesehen war, dieses wie im Oktober mit Rob Steinecke am Schlagzeug zu spielen. Der Drummer hätte von Montpellier in Frankreich anreisen sollen – was aufgrund der aktuellen Reisebestimmungen nicht möglich war. So hat Steinecke seinen Freund Martin Hämmerle gefragt, ob er nicht für ihn einspringen wolle. «Ich mache sowas immer gern», erklärt der 72-jährige Schlagzeuger, der schon mit Tony Carey und Karel Gott auf Tour war. «Das ist etwas ganz Neues für mich, spannend!» Hämmerle ist aus dem grenznahen Österreich mit allen nötigen Corona-Papieren und -Tests angereist – muss aber in 24 Stunden auch wieder zurückfahren. Die beiden Musiker spielen heute zum ersten Mal zusammen – und am Abend muss das Video fertig aufgenommen sein. 

Von Stress ist aber nichts zu merken. Bolsinger spielt die rhythmischen Rumba- und Calypso-Melodien und die ruhig fliessenden harmonischen und auch schrägen Tönen locker, und Hämmerle schwingt sich mit seinem ganzen Sein auf die Musik ein, streicht mit dem Drum-Besen über die Klangstäbe, lässt die Becken vibrieren und legt dann auf den Trommeln richtig los – um sich wieder zurückzunehmen und ja nicht lauter als die Orgel zu werden.

Die Figuren mit den grossen gelben Augen bewegen sich auf und ab an der Wand hinter dem Schlagzeug und dem Orgeltisch. Sie erinnern nicht nur an Minions, die das fehlende Publikum ersetzen. Sie sind auch eine Hommage an das Werk von Jean-Michel Jarre, erinnern an die «Watchers», Beobachter auf dem Platten-cover seines  grossen Werkes «Equinoxe». Jetzt, 
40 Jahre später, hat sie Jarre in neuer Form auferstehen lassen auf dem Cover von «Equinoxe Infinity». Die Beobachter, so erklärte Jarre sein Cover, schauen auf unsere Welt und zwei mög-liche Szenarien ihrer Zukunft: blau, grün und lebendig oder von Menschen und Maschinen zerstört. 

Text: Beatrix Ledergerber