«Die Malerei ist mein Glück»

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«Die Malerei ist mein Glück»

Malerin zu sein, ist für die Schaffhauser Künstlerin Christine Seiterle ein Glücksfall. Ein Besuch im Atelier jener Frau, die dieses Jahr die Festbilder für das forum gestaltet.

TextIhr Atelier ist eine Werkstatt. Und wie eine eigene Welt. Versteckt in einem schmalen Altstadtgässchen in Schaffhausen arbeitet die Künstlerin Christine Seiterle seit 18 Jahren an diesem Ort. Die meisten ihrer Kunstwerke wohnen hier, auch wenn sie – normalerweise – einen Teil des Jahres in Paris und Norwegen lebt. Still ist es, in dieser Welt von Christine Seiterle, und einfach gehalten. Der alte Ofen knackst beim Heizen gegen die Kälte der ersten Märztage, die alten Holzbretter am Boden knarzen bei jedem Schritt. Als sollte die Welt draussen bleiben, sind einige Fenster mit weissem Papier verklebt. Das Licht bleibt dezent. Da ist eine Werkbank zum Zeichnen, da stehen zwei Staffeleien, Pinsel und Farben, dort hinten das Regal mit den Skizzenbüchern. Alles scheint seine Ordnung zu haben, fast schon nüchtern. Würden da nicht ihre Bilder wohnen, würden diese Bilder nicht förmlich leben.

Menschen, Pflanzen, Berge und Wasser, das Licht und die Wolken, Tanz und Begegnung, Uhren mit grossen Ziffernblättern, ein Hund, dann wieder Buchstaben oder ein Wort in geschlungener Schrift, ein Segelboot – ganz viel Lebendiges scheint sich auszudrücken in der Kunst von Christine Seiterle. Nicht zu vergessen die Velofahrerinnen und Velofahrer, die immer wieder auftauchen. Christine Seiterle selbst ist Velofahrerin. Weil es «die leise Art ist, unterwegs zu sein auf der Welt». Trifft exakt, was die Bilder darstellen: ganz viel Lebendiges, allerdings nicht auf die laute, wirre und polternde Art, sondern auf die feine und leise. Trifft auch exakt, was Christine Seiterle auszumachen scheint: hohe Präzession, grosser Anspruch, und doch in bescheidener Haltung ruhig bei sich. Zu ihrer Kunst sagt sie: «Es geht mir darum, die Elemente zusammenzunehmen und die Welt neu zu komponieren. Da ist mein Platz.»

Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Christine Seiterle mit der Malerei, jetzt 2021 wird es 30 Jahre her sein, dass sie die Schule für Gestaltung in Luzern abgeschlossen hat. Für Weiterbildungen war die geborene Schaffhauserin auch im Ausland unterwegs. Die heute 52-jährige freischaffende Künstlerin kann von ihrer Kunst leben, die sie – normalerweise – an Ausstellungen verkauft. Steht sie nicht an der Leinwand, übernimmt die ausgebildete Organistin Stellvertretungen für den Orgeldienst an Kirchen und beschäftigt sich mit Jazz-Improvisationen am Klavier. Gefragt danach, was Erfolg für sie sei, sagt sie: «Ganz ehrlich: Wenn man zufrieden ist an dem Ort, an dem man ist. Ich bin genau da.» Hier steht sie, in einer weissen Latzhose mit allerlei Farbflecken, wie sie Malerinnen eben tragen, ein schwarzes Shirt darunter. Betrachtet aus ernsthaften, aber neugierigen Augen die Welt, wie sie auf sie zukommt, unter ihrem Pony-Haarschnitt hervor. «Eigentlich ist immer alles auf mich zugekommen, die Aufträge, die Anfragen für Ausstellungen. Das ist ein grosses Glück.» Das Wort «Glück» fällt öfters im Austausch mit ihr. «Malerei ist für mich Glück. Und ich darf dort sein, wo ich glücklich bin. Die letzten 30 Jahre habe ich mich ihr mit Herz und Haut und Haar gewidmet, es ist schon wirklich mein Leben geworden.»

Natürlich braucht es mehr als Glück. Christine Seiterle bezeichnet es als «konstantes Wollen»: dranbleiben, arbeiten, sich «unaufhörlich interessieren». Es gibt denn auch diesen Ort in ihrem Atelier, an dem ein menschenhoher Pfeil steht, ursprünglich und vor längerer Zeit war er ein grosser Wegweiser auf einer Autostrasse gewesen. «Konstanz» steht darauf, in weissen Lettern auf blauem Untergrund. Der Wegweiser zielte auf den Ort am Bodensee, die Künstlerin zielt damit nun auf Haltung: auf die Konstanz. Hier im Atelier weist der Pfeil weder nach rechts noch nach links, nein, er weist nach oben. Und steht am Ende einer steilen, alten, lange wirkenden Treppe, die – mit Blick auf diesen Pfeil – erst einmal hochsteigen muss, wer ins Atelier kommen will. Nicht zufällig. «In Konstanz sein, mit der Verbindung zum Himmel und im Tanz, der ja auch in dem Wort vorkommt.» Moment Stille. «Mein Vater hat die Tafel aus dem Container gefischt. Die begleitet mich bis an mein Lebensende.»

Das Bewusstsein für eine himmlische Dimension – «dass es etwas dahinter gibt» – ist Christine Seiterle zu eigen. «Ich bin religiös, in dem Sinn, dass ich zurückgebunden bin. Ich lebe in der Verbindung von aussen und innen, alles gehört zusammen und ist kein Zufall. Für mich ist die Welt eine grosse Ordnung, in der wir die Chance hätten, es gut zu haben.» Bewusst soll sich das auch in ihren Werken ausdrücken. «Ich glaube, sie können inspirieren, die Welt so wahrzunehmen, dass es nicht nur Tisch und Stuhl gibt, sondern etwas dazwischen. Als würde ich die Welt aufmachen wollen, den Himmel herunter- und heranholen wollen, ins Leben hinein.» Es ist die Idee einer Welt, die in ihrem Ursprung gut ist, geordnet und friedlich. Weniger naiv, doch aber verspielt. Und nicht als Erstes «vom Kopf her».

Was ist es dann, welche Kraft treibt sie zu ihrem Schaffen, wenn nicht der Kopf? Ihr Blick wandert nach unten und nach innen, und wie die einzelnen Buchstaben auf ihren Bildern, so fügt sich eine Antwort: «…das hat viel mit Liebe zu tun. Verbunden sein. Und weil ich so aufgewachsen bin, ist da viel in mir drinnen, von der liebenden Mutter und dem liebenden Vater, die uns den liebenden Gott weitergegeben haben, die uns verbunden haben mit dem Himmel und mit den Verstorbenen und mit dem Leben, in dem wir sind, von der Geburt bis zum Tod.» Der Tod. Als würde sie sich ein bisschen wundern, darauf angesprochen zu werden, sagt Christine Seiterle: «Sterben und neu leben geschieht doch eigentlich jeden Tag.» Und das auch beim Malen. «Da ist die Parallele zum Leben spannend: etwas loslassen, sterben lassen, vertrauen, dass es weitergeht. Daran glauben, dass es einen Weg gibt, auch dann wieder, wenn man gerade einen Umweg macht.» Natürlich entsteht auch beim Malen immer wieder etwas, das womöglich besser ungeschehen wäre.

Christine Seiterle malt mit Öl. Auf die Staffelei stellt sie eine grosse Leinwand, auf der vieles bereits zu sehen ist, Menschen, Pflanzen, Velos und eine Uhr, Bewegung zwischen klar abgegrenzten farbigen Quadraten. Sie nimmt einen Pinsel, die Ölfarben sind immer parat, zwei, drei Striche, eine geschwungene Linie und schon ist darauf eine neue Figur entstanden. Ein kleiner Schritt zurück, den Kopf etwas schief gelegt, wieder zwei, drei Pinselstriche. Doch dann kommt der Lumpen – jetzt bloss zum Vorzeigen. Ölfarbe lässt sich damit durchaus wieder wegwischen, allerdings nur, solange sie frisch ist. Und: «Es bleibt eben immer ein Schatten auf dem Bild zurück. Wie es vorher war, so wird es nicht wieder.» Dass das aber auch gut so sei, weil das Leben nun mal so sei – das versteht sich von selbst. Jetzt könnte Christine Seiterle grad weitermalen. «Sobald ich eine Idee habe, fängt es sofort an. Es macht zack, dann gibt das eine das andere, dann wieder übermalen, wieder übermalen … es ist ein elend – was sage ich – ein wunderbar langer Prozess.» Lacht und tritt wieder einen Schritt zurück. «Eigentlich suche ich in meinen Bildern die Ruhe und eher das Wenige – aber kaum male ich, passiert so viel.»

Text: Veronika Jehle