Erschüttert

Glaubens-Perspektiven

Erschüttert

Wo ist Gott? Viele Menschen, die nach dem Sinn ihres Lebens und einem guten Lebensvollzug fragen, tun dies ohne Gott.

Und vermissen ihn auch nicht. Gegenüber den Errungenschaften und Aussichten der künstlichen Intelligenz, die bald alles kann und weiss, fühlen wir uns klein und ohnmächtig – wie früher gegenüber Gott, den wir uns als allwissend und allmächtig vorstellten. Gleichzeitig bröckelt der Glaube, dass technisch alles machbar ist, ebenso wie der Glaube an Gott. Selbst die Religion kann uns von Gott abbringen, wenn sie als Quelle der Macht und Gewalt erlebt wird. Der Glaube an die Kirche als Ort der Gotteserfahrung ist in seinen Grundfesten erschüttert – auch, aber nicht nur wegen der Missbrauchsskandale.

«Mit den Augen von gestern und heute werden wir Gott morgen nicht mehr erkennen», sagte kürzlich der Bischof von Dresden-Meissen, Heinrich Timmerevers, und spielte damit auf die erlebte Abwesenheit Gottes auf all diesen Ebenen an. Will heissen: Unsere postmoderne säkularisierte Welt ist nicht die schlimme Folge einer Gesellschaft, die nichts mehr von Gott wissen will, sondern der Raum einer menschlichen und kulturellen Entwicklung, die uns auf eine veränderte Gottesbeziehung hin öffnet.

Nicht anders erging es den Jüngerinnen und Jüngern nach dem Tod Jesu. Der Karsamstag steht für diesen leeren Raum ohne Gott. Später, auf dem Weg nach Emmaus, wo die Freunde Jesu über seinen Tod diskutieren und zu verstehen versuchen, was da gerade passiert ist, merken sie nicht, dass Jesus schon eine Weile mit ihnen geht. Denn: «Mit den Augen von gestern und heute werden wir Gott morgen nicht erkennen.» Ihre Augen waren an den Jesus gewöhnt, der als Mensch mit ihnen unterwegs gewesen war. Sie hatten keine Möglichkeit, ihn wahrzunehmen, als er nach seiner Ostererfahrung als Auferstandener neben ihnen herging. Erst das innere Erleben – «brannte nicht unser Herz» – erinnert sie an das Zusammensein in Gottes Fülle und lässt sie erahnen, wer hier bei ihnen ist.

Der Karsamstag macht deutlich: es braucht das Erleben von Leere und Abwesenheit, um Sehnsucht und Suchbewegungen möglich zu machen. Das gemeinsame Suchen nach Lebensbewältigungsstrategien, nach Wegen aus den globalen Krisen unserer Zeit, zusammen mit den Menschen um uns, ob gläubig oder nicht, ob mit oder ohne Gott, nur dieses gemeinsame suchende Unterwegssein wird uns die Augen von morgen schenken, mit denen wir vielleicht überrascht wahrnehmen: Die Präsenz Gottes ist überall, wo wir meinen, er sei nicht da. Diese Einsicht wird uns vielleicht gerade von jenen geschenkt, die Gott nicht kennen und nicht vermissen – aber kreative Wege aus den vielfältigen Krisen suchen, die uns alle betreffen, in der Kirche und in der Gesellschaft gleichermassen. Lassen wir uns auf diese Menschen ein, lassen wir Gott aus unserem beschränkten Blick von gestern und heute los, und lassen wir uns überraschen von einer ungeahnten Ostererfahrung.

Text: Beatrix Ledergerber