1000 Geschichten und mehr

Schwerpunkt

1000 Geschichten und mehr

Wer die Faszination für Serien besser versteht, der beginnt auch zu begreifen, weshalb Menschen meditieren.

Wer seinen Kindern schon einmal ihre Lieblingsgeschichte zum dreissigsten Mal erzählt hat, kennt diese Reaktion: «Das stimmt so nicht! Du hast falsch erzählt!»

Provoziert wird dieser Aufschrei durch eine kleine, womöglich gar witzige Variation, eingebaut in die längst bekannte Erzählung, einfach weil man der Lust zur Abwechslung nicht widerstehen konnte.

Dr. Sheldon Cooper lässt dem kindlichen Wunsch nach Wiederholung hemmungslos freien Lauf. Er besteht selbst als theoretischer Physiker auf die korrekte Durchführung von Ritualen – seien sie nun bewährt oder schrullig. Der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Cooper durch die Fernsehserie «The Big Bang Theory», die von 2007 bis 2019 lief, eine der erfolgreichsten Sitcoms aller Zeiten.

Serien sind ein Megatrend – und gleichzeitig so alt wie die Menschheit: die «Ilias» von Homer, die Ritterlegenden des Mittelalters, die Romane von Charles Dickens – und klar, auch die Bibel. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Jüngerinnen und Jünger ihren Jesus immer wieder bedrängten: «Erzähl uns noch ein Gleichnis!» und «Bitte noch einmal die Geschichte mit dem verlorenen Sohn!»

Bereits im Wort Gleichnis verbirgt sich übrigens die Serie, die Variation des Gleichen.

Klopf-klopf-klopf
Klopf-klopf-klopf

In 279 Folgen von «The Big Bang Theory» erleben wir um die 100 Mal, wie Sheldon an Pennys Wohnungstüre klopft. Er folgt dabei stets einem bestimmten Schema: «Klopf-klopf-klopf: Penny – Klopf-klopf-klopf: Penny – Klopf-klopf-klopf: Penny.»

Für Sheldon ist das mehr als blosse Gewohnheit. Es ist ein Ritual, das ihm Normalität, 
Sicherheit, Geborgenheit vermittelt. Eigentlich kann Sheldon deshalb nicht die kleinste Abweichung ertragen, aber wir Zuschauer erwarten selbstverständlich immer wieder neue Variationen des Running Gags. Bis sich herausstellt, dass dieses Ritual ansteckend wirkt. Irgendwann ist sogar Penny so weit, nach demselben Muster bei Sheldon anzuklopfen. Das gefällt Sheldon allerdings nur zu Beginn, denn eigentlich gehört das Ritual ihm ganz allein, er hütet es eifersüchtig als seine ganz persönliche Zwangshandlung.

In Sheldons Klopfritual steckt viel von dem, was unsere Faszination für Serien ausmacht: die heimelige Gewohnheit, das Verlangen nach überraschenden Variationen, die Ansteckung anderer und auch die Suchtgefahr.

Streaming: Netflix / Amazon Prime

Raum der Beziehung

Serielles Erzählen eröffnet Räume, in die wir eintauchen können. Wir sitzen zwölf Jahre lang wöchentlich oder gar täglich in der Wohnung von Dr. Sheldon Cooper und Dr. Leonard Hofstadter. Dort werden all unsere Themen behandelt, dort wird nichts ausgelassen, dort lachen wir über uns selbst. Am Ende werden Figuren zu Menschen, mit denen wir ein Stück Lebensweg teilen.

Als die Schauspielerin Jennifer Aniston 2019 ein Selfie mit ihren fünf Kolleginnen und Kol-legen aus «Friends» postete, zwang sie damit Instagram in die Knie. Und zwar nur deshalb, weil Millionen von Fans auf diesem Selfie nicht sechs Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern sechs vertraute Menschen sahen. Selbst 17 Jahre nach der letzten «Friends»-Folge sind uns die Namen der Figuren geläufiger als die Namen jener, die sie gespielt haben.

Wenn wir im Freundeskreis über unsere Lieblingsserie sprechen, dann reden wir weder über Schauspielerinnen und Schauspieler noch über Figuren. Wir reden über gemeinsame Freunde. So vertraut und lebendig, dass wir es Schauspielerinnen und Schauspielern nicht mehr erlauben können, sich von ihrer Rolle zu trennen.


Raum der Erfahrung

In einem zweiten Raum tauchen wir in ganz spezielle Lebenssituationen ein. Wir wollen alles Mögliche erleben: Gier, Verzweiflung, Absturz, Erlösung, Euphorie, Vergangenheit und Zukunft, Tod und Auferstehung. Im Erfahrungsraum tauchen wir in ein Rollenspiel ein. Wir spielen mit unseren unbekannten und sorgsam verborgenen Seiten.

Der Erfahrungsraum kann sich spektakulär oder sogar bedrohlich entfalten, aber auch ganz unmerklich. Die Sitcom «Modern Family» ist für viele Familien ein harmloses Vergnügen. Just for fun. Und doch beginnen auch sie vor dem Bildschirm unwillkürlich darüber zu reden, wie ihr Beziehungsgeflecht im echten Leben funktioniert. Wer ist unsere Claire? Wer unser Phil? Was haben wir mit Haley, Alex, Luke, Jay, Gloria, Manny, Mitch und Cameron gemein?

Im Raum der Erfahrung entdecken wir nicht selten den Spiegel der Selbsterkenntnis und manchmal sogar den Schlüssel zur Veränderung.


Raum des Echos

Ohne einen dritten Raum würden allerdings weder Beziehungsraum noch Erfahrungsraum existieren. Und dennoch kennen die Räume seriellen Erzählens keine Hierarchie. Jeder Raum bedingt den anderen. Und jeder Raum bedient den anderen.

Dieser dritte Raum entsteht durch die Pausen, ohne die es kein serielles Erzählen gibt. Und weil die Zeit im Beziehungsraum und im Erfahrungsraum niemals stillsteht, entfaltet sich in den Lücken zwischen zwei Folgen der Echoraum.

Hier geht die Erzählung ohne Unterlass weiter. Wir malen uns aus, wie es mit all dem weiter-gehen könnte: mit der Handlung, mit den Figuren, mit den Erfahrungen, mit ihnen und uns.

Den gewaltigsten Echoraum der letzten Jahre hat «Game of Thrones» gebaut. Die Zeit, welche die Fans mit ihrem eigenen Erzählen der Saga verbracht haben, übersteigt die reine Sendezeit um ein Vielfaches.

Arthur Conan Doyle, selbst ein Klassiker seriellen Erzählens, eröffnete ungewollt einen inzwischen legendären Echoraum, als er 1893 Sherlock Holmes sterben liess. Doyle hatte allmählich das Interesse an seiner Kreatur verloren und war schliesslich bereit, sämtliche Erzählräume einstürzen zu lassen. Am Tag, als er «Das letzte Problem» vollendete, schrieb Doyle in sein Tagebuch: «Heute habe ich Sherlock Holmes umgebracht.»

Doyle hatte die Rechnung allerdings ohne die Fans gemacht. Die Fans von Sherlock Holmes wohlgemerkt! Diese waren nicht bereit, sich aus den lieb gewordenen Räumen vertreiben zu lassen. Also schrieben sie ihre eigenen Holmes-Abenteuer und sorgten aus dem Echoraum heraus dafür, dass auch die anderen Räume erhalten blieben. Erst 1902 war Arthur Conan Doyle bereit, sich mit «Der Hund von Basker-ville» wieder an dieser Erzählung zu beteiligen. 


Die Wiederholung und das Neue

Zurück zu den Kindern und der Bibel. Dass Jesus uns auffordert, wie die Kinder zu werden, hat tief verborgen auch mit dem Urgrund aller Serien zu tun. Wenn sich Kleinkinder eine Geschichte immer wieder und wieder und immer genau gleich wünschen, dann pflegen sie damit eine fundamentale Form der Meditation. Geleitet vom vertrauten Sound des immer Gleichen, können sie im Echoraum ihrer ganz eigenen Geschichte nachgehen. Deshalb lehnen sie selbst kleine Variationen ab, weil dadurch ihre eigene Kreativität gestört wird.

Serien gründen wie das Stundengebet, der Kunstgenuss und die ewige Liebe auf einem universellen Prinzip, das nur denkfaule Erwachsene als paradox empfinden: Differenzierung entfaltet sich in der Wiederholung. Im ewig Gleichen entdecken wir das immer Neue. Schönheit enthüllt sich dem ruhenden Blick. Und wer dem Geheimnis des Andauerns verfällt, vertreibt die Langeweile der Rastlosigkeit. 

Text: Thomas Binotto