Wider die Resignation

Kommentar zu «Das neue Evangelium»

Wider die Resignation

Eine neue gute Nachricht? Gute Nachrichten brauchen wir heute mehr denn je. 

An die biblische gute Nachricht haben wir uns so sehr gewöhnt, dass wir ihre Botschaft vor lauter Vertrautheit wohl gar nicht mehr hören. Oder lassen wir uns aus anderen Gründen nicht mehr treffen? Haben sich diejenigen am Evangelium bedient, die im Grunde das Gegenteil verkünden, sodass die revolutionäre Kraft nicht mehr erkannt wird? Anders herum: Erkennen wir bloss den Bezug zur eigenen Wirklichkeit nicht mehr? Wollen wir ihn nicht sehen, weil die Botschaft selbst irgendwie zu unbequem oder zu fordernd sein könnte? 

Solche Fragen weckt in mir Milo Raus jüngster Film «Das neue Evangelium». Die süditalienische Stadt Matera ist nicht nur Drehort, sondern auch Schauplatz. Wofür Jesus einstand – und wofür er heute einstehen und leiden würde –, wird zu einer sehr konkreten Frage: Was ist die Frohe Botschaft heute? 

Rau selbst sagt dazu, nachzulesen auf der Website dasneueevangelium.de: «Am meisten freut mich aber, dass unser Film sich auf die Realität auswirkt: Rund um Matera wurden, wie Sie am Ende des Films sehen können, infolge der ‹Revolte der Würde› die ersten ‹Häuser der Würde› gegründet: Häuser, in denen die zuvor obdachlosen Statisten des Films nun in Würde und Selbstbestimmtheit leben können. Und das mit Unterstützung der Katholischen Kirche!»

Der Film wirkt sich bereits im Entstehen auf die Realität aus, durch die Partizipation der beteiligten Migrant*innen und Einheimischen, der Politiker*innen und der Tourist*innen. So als würden die prophetische Predigt und die Passion Christi ihr Werk von alleine tun – bei allen, die sich ernsthaft auf ihre Dramatik und ihr unbedingtes Ja zur Würde des Menschen einlassen. 

Die unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten treffen im Film aufeinander, sie werden aber nicht vermischt. Das führt zwar zu Brüchen im Erzählstrang. Doch genau diese Brüche verhindern die plumpe, romantische Gleichschaltung von evangelischem Narrativ und aktueller Wirklichkeit: Jesus ist nicht einfach ein Aktivist, der für die Befreiung von migrantischen Feldarbeitern und Prostituierten kämpft. Vielmehr bekommt der Aktivist vom Slum nebenan in einem Passionsspiel in Matera die Rolle des Jesus. Wenn er in dieser Rolle beim Einzug in Jerusalem das Wort an die Bevölkerung Materas richtet, die ihm zujubelt, betrifft es alle – selbst diejenigen, die den Film aus ihren bequemen Sesseln heraus betrachten: «Nicht der Verzweifelte ist der Feind, sondern wer Verzweiflung sät. Feind ist nicht der Flüchtende, sondern die Gesellschaft, die Menschen zur Flucht zwingt.» 

Resignation und Verzweiflung sind tatsächlich naheliegende Reaktionen angesichts des Elends, in das so viele Menschen, auch so viele Geflüchtete, gedrängt werden. Für mich ist der Film eine Aufforderung, mit all meinen Anliegen und Ohnmachtserfahrungen, Aufbrüchen und Zweifeln das Evangelium so zu lesen, als wäre es das erste Mal – und seine Kraft zur Hoffnung unvermittelt zuzulassen. 

Christoph Albrecht SJ, Verantwortlicher für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst und für die katholische Seelsorge der Fahrenden in der Schweiz.


Filmkritik

Jesus-Film im Kontext von Pasolini und Scorsese 

Mit seinem Film «Das neue Evangelium» hat Milo Rau ein anspielungsreiches, etwas gar intellektuelles, aber in jedem Fall sehenswertes Werk geschaffen. Seit bekannt wurde, dass er sich mit dem Matthäus-Evangelium befasse, wartete man gespannt: Der Schweizer Regisseur und Theaterautor hatte sich mit politischen Theaterprojekten und Arbeiten in Ruanda, im Kongo, im Irak und in Syrien einen Namen gemacht. Wie würde er mit dem biblischen Stoff umgehen? 

Grundlage von Raus Film ist Pier Paolo Pasolinis Meisterwerk «Das 1. Evangelium – Matthäus» aus dem Jahre 1964. Damals staunte die Filmwelt, dass sich ein erklärter Marxist und Kirchenkritiker des Evangeliums annahm. Pasolini wählte vor allem Laiendarsteller aus, drehte in der süditalienischen Stadt Matera, und setzte starke sozialkritische Akzente. 

Pasolinis Streifen gilt bis heute als der formal und inhaltlich gelungenste Film über Jesus. Alle danach entstandenen Jesus-Filme beziehen sich auf ihn oder zitieren ihn ausdrücklich; Martin Scorseses «Die letzte Versuchung Christi» (1988) genauso wie Mel Gibsons «Die Passion Christi» (2004).

Es liegt nahe, dass Milo Raus Werk seinerseits im süditalienischen Matera spielt und Bezug nimmt auf Pasolinis Arbeit. Denn Rau ist der Meinung, dass Jesus damals eine Revolte für die Letzten begann. Zum Film führte ihn die Frage, wo und wie Jesus heute kämpfen würde. 

In Süditalien stranden heute Frauen und Männer, die nach Jahren der Flucht gezeichnet sind von Erniedrigung und Gewalt und doch voller Hoffnung ein neues Leben beginnen wollen. Rau setzt etliche im Matthäus-Evangelium berichtete Ereignisse parallel mit Szenen aus dem Leben von Geflüchteten und Szenen vom Engagement süditalienischer Landarbeiter*innen für bessere Produkte. Raus Jesus-Darsteller Yvan Sagnet war 2011 eine treibende Kraft beim allerersten Streik, den Feldarbeiter*innen mit Migrationshintergrund in Italien organisierten. 

Zuweilen montiert der Regisseur einzelne Szenen um Migration, Elend des Mezzogiorno, Mafia und Passion hinreissend und beklemmend zusammen. Ein junger Süditaliener beispielsweise bewirbt sich in einer Casting-Szene für die Rolle als Soldat. Denn «als Katholik» finde er es aufschlussreich, «den heiligen Gott zu töten und zu massakrieren». Mit einem Stuhl führt er vor, wie er den schwarzen Jesus peitschen und demütigen würde. In den Peitschenhieben und zynischen Sprüchen des Bewerbers scheint nicht nur der Hass des Einheimischen auf die Neuankömmlinge aus Afrika durchzuschimmern, sondern auch die Barbarei der Schergen, die Jesus damals erniedrigten. 

Zuweilen allerdings wirkt Raus Montage, wirken seine mehrfach verfremdeten Inszenierungen zu intellektuell und zu steril. Etwas mehr Vertrauen in die herausragenden Gesichter einzelner Darsteller*innen und ihr Spiel hätte dem Film gutgetan. Er weckt aber auch so Interesse für die verwandelnden Energien der ursprüng-lichen Jesus-Erzählung und bleibt in jedem Fall sehenswert.

Franz-Xaver Hiestand SJ, Hochschulseelsorger und Leiter des aki, 
der Katholischen Hochschulgemeinde Zürich.

Leserbrief

«Jesus-Film im Kontext von Pasolini und Scorsese»

 Zum Film «Das neue Evangelium» von Milo Rau kann ich mich kaum äussern, hatte ich doch keine Gelegenheit, ihn ausser eines kurzen Trailers zu sehen. Aber zur Aussage, auch des Filmemachers, der Film stehe in der Tradition von Pier Paolo Pasolini, fühle ich mich verpflichtet, mit diesem grossen Missverständnis ein- für allemal aufzuräumen. Seit ich 1965 zum ersten Mal in Belgien Pasolinis «Il Vangelo secondo Matteo» gesehen habe, bin ich unzählige Male zu diesem einmaligen Film oder auch nur zu einzelnen Szenen zurückgekehrt.

Das erste Missverständnis liegt schon im Titel: «Das Evangelium nach Matthäus» ist richtig, nichts von «Das 1. Evangelium – Matthäus» und vieles mehr. Dann: die Tatsache, dass ein Film an der gleichen Location gedreht wurde, sagt gar nichts über irgendeinen Zusammenhang aus. Dass Mel Gibson die Kreuzigungsszene für sein Horrorepos «The Passion of Christ» in Matera drehte, empfand ich immer schon als eine Frechheit und zudem unappetitlich. Das Matera der 60er Jahre von Pasolini hat mit der «süditalienischen Stadt Matera», die 2019 zur „Kulturhauptstadt Europas“ ernannt wurde, und in der Milo Rau seinen Film drehte, kaum etwas zu tun; es sind zwei total verschiedene Welten.

Aber es gibt noch ein viel gewichtigeres Argument, warum der Vergleich «Il Vangelo secondo Matteo» von Pasolinis mit anderen Jesusfilmen viel zu kurz greift. Es geht Pasolini um die Darstellung der «Leidensgeschichte» und die Texte, die sie erzählen; mit anderen Worten es geht ihm tatsächlich um das «Das Evangelium nach Matthäus»! Etwas zugespitzt formuliert: Pasolini wollte in keiner Weise die Jesusgeschichte für unsere Zeit illustrieren, sondern sein Film sollte die Menschen von heute dazu anregen, wieder das Neue Testament zur Hand zu nehmen um die ‘sorgfältigste aller Erzählungen und den erhabensten Text, der je geschrieben wurde’: «Das Evangelium nach Matthäus» neu zu lesen!

Vielleicht erklärt das auch den Erfolg des Filmes und warum Mitte der 60er Jahre sein «Evangelium nach Matthäus» in Paris in der Kathedrale Notre-Dame gezeigt wurde und Papst Paul VI. ausdrücklich wünschte, Pasolini möge seinen Film auch den Konzilsvätern, also den Bischöfen und Kardinälen des II. Vatikanischen Konzils zeigen; unter geradezu abenteuerlichen Umständen schaffte es Pasolini, diese mit dutzenden Taxi ins Kino an der Via Veneto zu bringen.

 Viktor Hofstetter, Dominikaner, per Mail