Überrascht nach 59 Ehejahren

Leben in Beziehung

Überrascht nach 59 Ehejahren

Seit 59 Jahren hält mich meine liebe Angetraute aus. Ich sie übrigens auch. «Verliebt wie am ersten Tag.» 

So hiesse es wohl in einer Bildreportage über uns in der «Schweizer Illustrierten», so es eine solche Bildreportage gäbe. Wie Liebe in einer Ehe zu definieren ist, weiss ich aber bis heute nicht. Die junge, heisse Liebe, die man mit der Ehe besiegelt, ist sowieso ein wirres Gemisch aus erotisch-sexueller Anziehung, gemeinsamen Interessen und undefinierbarer Bewunderung für den andern. «Verliebt wie am ersten Tag» nach 59 Jahren? So en Chabis!

Was hielt uns dann zusammen? Unsere vier Kinder und das frohe Familienleben mit ihnen bis heute? Das altväterische Familienbild – er Ernährer, sie Mutter und Hausfrau? Beides hat Gültigkeit für uns. Aber da ist noch eine ganz andere Erklärung. 

Aus glücklichen Umständen war es uns vergönnt, gleich nach unserer Hochzeit im Februar 1962 für einen Monat Gäste sein zu dürfen bei der Familie eines indischen Studienkollegen in Bombay. Anschliessend bereisten wir während zwei Monaten mit einem Kleinbus ganz Indien – campierenderweise! Weitere drei Monaten suchten wir daraufhin den Weg quer durch den Mittleren und Nahen Osten in unsere Schweiz zurück, alles mit dem Kleinbus, den wir rudimentär als Camper eingerichtet hatten. Gemeinsam Einblick in unendlich viel Unbekanntes zu erhalten, gemeinsam Herrliches zu erleben, aber auch Ungewissheit und Mühsal zu ertragen – bis heute zehren wir von diesem grossen gemeinsamen, sechsmonatigen Abenteuer. Der Drang nach der Ferne blieb uns während des weiteren Lebens erhalten.

Wir wanderten mit der ersten Tochter nach Peru aus, kamen, als die Familienfirma aus der Schweiz rief, mit drei Töchtern wieder zurück und ergriffen doch weiterhin jede Möglichkeit, um mit dem eigenen oder einem Mietauto in Südamerika, im Nahen Osten, in den Anden und im Karakorum, aber auch in Europa unterwegs zu sein. Vor einigen Jahren führte dieser Reisedrang allerdings zu meinem Eheerlebnis, das mich in meinen Grundfesten erzittern liess. Dazu kam es so:

In den Anden im Norden Argentiniens entdeckte ich auf der Karte eine als «befahrbar» klassifizierte Strasse. Auch betagte Herren, die schon den 80 entgegengehen, können an spätpubertären Rallygelüsten und am Fahren auf rauen Pisten Gefallen finden. Aber da fiel mir beim Abwärtskurven in bachbettartigem Gelände auf, wie meine Frau auf dem Beifahrersitz immer wieder heftig auf ein imaginäres Bremspedal trat.  Auf meine Frage, was denn los sei, wir seien in unserem Leben doch schon oft so unterwegs gewesen, meinte sie: «Weisst du, als du jung warst, dachte ich, du seist stark und könnest alles. Aber jetzt bist du doch alt geworden!» – Ehrlich währt offenbar tatsächlich am längsten.

Text: Hans Jörg Schibli (85) ist seit 59 Jahren verheiratet und Vater von vier Kindern und Grossvater von vier Enkeln. Er hat über 35 Jahre lang ein mittelgrosses Familienunternehmen in Zürich geführt.