Wer Jude werden darf

Bericht aus Jerusalem

Wer Jude werden darf

Der Übertritt zu einer anderen Religion: Ein Mensch spürt den Ruf. Er tritt in Beziehung zu Gott und zum Kollektiv der Gläubigen.

Diese Schritte sind eine intime Angelegenheit. Nicht so in Israel. Seit Jahrzehnten sorgt der richtige Weg ins Judentum dort für Diskussionen. Mit ihm kommt ein streitbarer Themenkreis um Einwanderungsrechte, Staatsbürgerschaft, Anerkennung und die Deutungshoheit über die Frage «Wer ist ein Jude?». Auch um die Antwort darauf zu vermeiden, verzichteten Israels Gründungsväter auf eine Verfassung. Bis heute meiden Regierungen die heikle Frage – so sehr, dass zuletzt erneut das oberste Gericht eingreifen musste. Es wies den Staat an, Menschen als jüdisch anzuerkennen, die in liberal-jüdischen Strömungen in Israel zum Judentum übergetreten sind. Der Aufschrei strengreligiöser Kreise und der Jubel der liberaleren Juden liessen nicht lange auf sich warten.

Die Frage ist über die Religion hinaus relevant: Israel definiert sich als jüdischer Staat. Wer Jude ist, hat ein Recht auf Einwanderung und Staatsbürgerschaft – zu klären, wer Jude ist, ist damit kritisch. Hier genau beginnt der Konflikt mit dem zivilen Staat, der Angelegenheiten zum Personenstand den Religionsgemeinschaften anvertraut hat, im Fall des Judentums dem orthodoxen Oberrabbinat. Dessen Antwort auf die Gretchenfrage ist eindeutig: Nach jüdischem Religionsrecht ist Jude, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder religionsrechtskonform zum Judentum übergetreten ist, nach strengen Kriterien, auf orthodoxem Weg. Und sie steht im Widerspruch zur deutlich weiter gefassten staatlichen Definition, wer im Sinne des sogenannten Rückkehrgesetzes Bürger werden kann: jeder, der mindestens ein jüdisches Grosselternteil hat, sowie Ehepartner eines zur Einwanderung Berechtigten.

15 Jahre stritten Konvertiten nach nicht-orthodoxer Praxis vor dem obersten Gericht um ihre Anerkennung. Ihre Anträge auf Staatsbürgerschaft waren vom Innenministerium abgelehnt worden. Zu Unrecht, urteilten acht der neun Richter in dem jüngsten Urteil. Es gesellt sich zu zwei früheren Urteilen von 1988 und 2016, in denen die Richter den Staat anwiesen, im Ausland durchgeführte nicht-orthodoxe Konversionen sowie Konversionen durch private orthodoxe Rabbinergerichte in Israel anzuerkennen.

Die Richter füllten damit Teile einer Definitionslücke, die zu füllen den konservativen politischen Machthabern zu heiss war: Die strengreligiösen Parteien sind wichtige Koalitionspartner im fragmentierten Parteiensystem des Landes. Ein Vorstoss gegen die orthodoxe Deutungshoheit in Sachen Religionszugehörigkeit käme einem politischen Selbstmord gleich. Ein Entscheid gegen liberalere Formen der Konversion hingegen wäre gleichbedeutend mit einer Scheidung von der zahlenmässig grössten jüdischen Diaspora, den liberalen US-amerikanischen Juden. Die Richter zogen das Eisen aus dem Feuer, vorerst. Sie machten klar, dass das Urteil kein Parlament daran hindere, das Rückkehrgesetz neu zu ordnen. Mehrere strengreligiöse Politiker kündigten bereits entsprechende Vorstösse an. Eine bedeutende Regel des Judentums wird in der Debatte unterdessen oft ausser Acht gelassen: Ein Konvertit, so schreiben schon jüdische Gelehrte der Antike, soll von geborenen Juden nicht gekränkt oder bedrückt werden, denn wer den Konvertiten liebe, erfülle das Gebot, Gott zu lieben.

Text: Andrea Krogmann