Auch ein Bischof braucht Feedback

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Auch ein Bischof braucht Feedback

Missbrauchsfälle wurden und werden bekannt, der Umgang damit führt langsam zu einem Umdenken in der römisch-katholischen Kirche. Im Bistum Chur arbeiten Stefan Loppacher und Karin Iten als Präventionsbeauftragte.

Woran arbeiten Sie unter anderem?

Karin Iten: An einem Verhaltenskodex zu spirituellem und sexuellem Machtmissbrauch. 

Was ist das?

Iten: Wir schauen Risikosituationen im Alltag an, für Tätigkeiten in der Seelsorge, in der Katechese, in allen kirchlichen Bereichen. Dafür haben wir Haltungen und Qualitätsstandards erarbeitet, in einem partizipativen Prozess mit Vertreterinnen und Vertretern der Berufsgruppen.

Eine konkrete Risikosituation – und was findet sich dazu im Verhaltenskodex?

Stefan Loppacher: Im Ferienlager übernachten Kinder, Jugendliche und Leitungspersonen. Im Kodex führen wir dazu Leitlinien an, wie: Das Betreten eines Schlafraums von Minderjährigen muss immer einen fachlichen Grund haben. Oder: Leitungspersonen besprechen die Zimmereinteilung im Team.

Was bringt das?

Iten: Weil es konkret ist, macht es Situationen ansprechbar. Das beginnt ganz niederschwellig, wenn ein Leiter zu einem anderen sagen kann: «Hey, wir haben doch abgemacht, dass …» Wenn es dann wirklich um Grenzüberschreitungen geht, braucht es Führungsgespräche. Durch den Verhaltenskodex lassen sich heikle Themen im Graubereich versachlichen und eine Führungsperson kann klar sagen: «Das ist die Qualität, das erwarte ich».

Wie wird dieser Kodex verbindlich?

Loppacher: Es ist angedacht, dass er Bestandteil von jedem Arbeitsvertrag wird, kirchliche Mitarbeitende unterschreiben ihn. Auch Vorgesetzte, für die es ebenfalls Standards im Kodex gibt.

Vorgesetzte bis zu welcher Ebene?

Loppacher: Bis zum Bischof. Die Idee ist ja, Qualitätsstandards rund um Machtpositionen zu definieren, die wir in der Kirche haben. Auf allen Ebenen gibt es Risikosituationen, auf allen Ebenen ist diese Qualität gefordert.

Der Bischof soll den Kodex also auch unterschreiben?

Loppacher: Genau. Unterschreiben und ebenfalls einhalten.

Und wer kann den Bischof kontrollieren?

Iten: Der Verhaltenskodex an und für sich schafft schon Transparenz. Er schafft Erwartungen an die Führungsposition, das heisst, er hat macht-reflektierende Wirkung und macht Machtpositionen kritisierbar.

Was heisst das konkret?

Iten: Auch ein Bischof braucht Feedback für seine Tätigkeit. Wenn eine Kultur entsteht, in der man kritisieren kann, auch von unten, sich gegenseitig Feedback geben kann und Erwartungen äussern, dann wird es schwieriger, Grenzen zu überschreiten.

Erleben Sie im kirchlichen Umfeld offene Ohren für die Anliegen der Prävention?

Loppacher: Sehr, vor allem bei den Mitarbeitenden an der Basis. Viele sind besorgt, aufgerüttelt und sehr offen. Das ist wichtig, denn es ist die Bereitschaft von allen gefordert, ein Teil von Prävention zu werden. 

Und auf der Leitungsebene?

Loppacher: Das lässt sich nicht über einen Leisten schlagen. Im Bistum Chur haben wir jetzt einen Bischof, der Prävention klar mitträgt und ein Türöffner ist.

Iten: Nur schon, dass jetzt im System Kirche Ressourcen dafür da sind, ist ein Zeichen, dass Führungswille vorhanden ist für das Thema.

Es gibt offenbar immer noch Priester, die im Amt sind, obwohl sie zumindest unter Verdacht stehen, Grenzübertretungen begangen zu haben. Wie kann das sein?

Iten: Das eine ist der begründete Verdacht auf ein Strafdelikt, das andere ist eine Irritation im Graubereich von Nähe und Distanz. Bei Verdacht auf Straftat gibt es keine gute Begründung, dass jemand einfach im Amt verbleibt, ohne dass Massnahmen für eine externe Klärung eingeleitet würden.

Warum passiert es dennoch?

Iten: Das sind Systemdefizite und Führungsdefizite. Wenn es um Verdacht auf eine Straftat geht, dann braucht es im System strukturierte Abläufe und eine externe Klärung.

Heisst das, dass es diese Abläufe noch nicht gibt?

Iten: Es gibt Abläufe, aber nicht in der nötigen Qualität. Das ist das eine. Das andere ist, dass zum Teil Verdachtsmomente «herumgeistern», die nicht an die richtige Stelle gelangen. Man muss die Zivilcourage aufbringen, an die vorgesetzte Person zu melden, wenn eine Aussage oder Beobachtung auf einen Verdacht hinweist.

Loppacher: Es gibt auch spezifisch kirchliche Gründe, warum das schwierig ist. Das theologische Verständnis von dem, was ein Priester ist, ist in dieser Frage eine rechte Hypothek. Ein Priester ist, aus dieser Sicht, unendlich wertvoll im System Kirche, er kann etwas, das sonst niemand kann. Er ist unentbehrlich für die Versorgung mit Sakramenten. Deshalb tut man sich schwer, einen Priester bei einer Grenzverletzung zeitnah zu sanktionieren und ihn bei einschlägigen Straftaten konsequent aus dem Priesterstand zu entlassen. Diese Klarheit ist aber nötig.

Was braucht es dafür?

Loppacher: Wir müssen unterscheiden lernen – zwischen theologischen Überzeugungen und der praktischen, rechtlichen Ebene. Einer kann theologisch betrachtet «Priester auf ewig» sein, bei einer Straftat dürfen solche Glaubensüberzeugungen keine Rolle mehr spielen. Wenn er andere durch Machtmissbrauch oder sexuelle Ausbeutung schädigt, hat er sein Recht verloren, als Priester zu wirken.

Missbrauchsbetroffene vernetzen und organisieren sich eigenständig. Sind Sie mit diesen Gruppen im Austausch?

Loppacher: Natürlich. Ich lese und höre immer wieder, dass Betroffene motiviert sind, sich zu äussern, weil sie einen Beitrag leisten wollen, dass es nie wieder passiert. Und da sind wir genau bei unserer Kernaufgabe.

Iten: Für alle Instrumente – auch für den Verhaltenskodex – haben wir uns vorgenommen, Zitate von Opfern explizit aufzunehmen. Lange hat die Kirche die Stimmen der Betroffenen ignoriert. Wir möchten ihnen bewusst Raum geben.

Sie beide sind von der Kirche im Kanton Zürich angestellt – und müssen kritisch mit den Strukturen der Kirche umgehen. Haben Sie für Ihre Arbeit freie Hand?

Iten: Bislang schon, ja.

Loppacher: Ja.

Die Schweizer Bischofskonferenz hat eine unabhängige Studie zur Aufarbeitung von Missbrauch angekündigt. Was erwarten Sie sich davon?

Iten: Die Kirche würde damit zeigen, dass sie bereit ist, sich ungeschönt den Defiziten zu stellen und daraus zu lernen. Das wäre ein starkes Signal für Prävention, da es beides braucht: die ehrliche Auseinandersetzung mit Risiken und die Öffnung. 

Loppacher: Es bleibt letztlich unglaubwürdig, wenn eine Institution präventiv arbeiten will, gleichzeitig aber nicht hinschaut, was in der Vergangenheit passiert ist. Die Berichterstattung aus dem Bistum Köln in den letzten Monaten zeigt klar, wie schwer man sich auch heute und auch im deutschsprachigen Raum damit tut, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Aber es zeigt auch: Es führt kein Weg daran vorbei. Nicht nur weil der öffentliche Druck da ist, sondern vor allem, weil es den Betroffenen geschuldet ist – jenen, von denen wir bereits wissen, und jenen, von denen wir nichts wissen.

Text: Veronika Jehle