Betroffene haben etwas zu sagen

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Betroffene haben etwas zu sagen

Die «Interessensgemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld» ist neu gegründet. Initiant ist Albin Reichmuth (74). Er ist selbst ein Betroffener.

«Wir Betroffene haben etwas Wichtiges beizutragen zur Aufarbeitung von Missbrauch und zur Prävention», sagt Albin Reichmuth. Auf seine Initiative hin wurde im März eine Interessensgemeinschaft gegründet, die Betroffene vernetzen will und solche, die sich mit ihren Anliegen solidarisieren. Die IG ist ein gemeinnütziger Verein, dessen Zweck kurz mit den Stichworten Unterstützen, Vertreten und Vernetzen umschrieben werden kann. Während sich im Welschland der Verein «Groupe SAPEC» bereits seit einem Jahrzehnt darin engagiert, ist dieses Anliegen mit der IG nun auch in der Deutschschweiz verwirklicht.

Für Albin Reichmuth hat es Bedeutung, «wir Betroffene» sagen zu können. Er weiss, wie lange es braucht, sich dem erlebten Missbrauch stellen zu können und sich mit anderen zu vernetzen. Reichmuth wurde als Jugendlicher von seinem Heimatpfarrer missbraucht. Jahre des Schweigens und des Verdrängens folgten, bis zum Zusammenbruch. Heute ist vieles anders: er hat Methoden gefunden, mit dem Schmerz und der Wut zu arbeiten, hat andere Betroffene kennen gelernt und dank Unterstützung der Kontaktstelle Selbsthilfe Kanton Solothurn eine Selbsthilfegruppe gegründet. 

Im Umgang mit kirchlichen Stellen habe er «schöne Worte» gehört und ambivalente Erfahrungen gemacht, zum Beispiel wünsche er sich bis heute vergeblich deren Unterstützung bei der Bekanntmachung der Selbsthilfegruppe. Als er sich hingegen an seine Heimatpfarrei in Trimbach (SO) wandte – jenen Ort, an dem die Übergriffe passierten – setzten die Verantwortlichen klare Schritte, um aufzuklären. 

«Ich möchte, dass das Standard wird», sagt er und nennt damit eine Motivation, die IG zu gründen: Betroffene und ihr Umfeld sollen nicht mehr bei null anfangen müssen. Die IG möchte Wissen und Erfahrungen zur Verfügung stellen – für Betroffene selbst und für jene, die mit ihren Anliegen gut und kompetent umgehen wollen. Ziel ist es auch, sich einzusetzen, dass mit den Anliegen von Betroffenen im kirchlichen Umfeld kompetent umgegangen werden muss. 

Die IG steht am Anfang ihrer Arbeit. Neben Reichmuth als Präsident engagieren sich aktuell zwei Vorstandsmitglieder. Einer davon ist Christoph Wettstein, Spitalseelsorger in Zürich. «Ich will Betroffene konkret unterstützen», sagt er, der im Jahr 2019 mit anderen Seelsorgenden ein öffentliches Zeichen gegen Missbrauch gesetzt hat. 

Ob seine kirchliche Anstellung mit einem Engagement im Vorstand der IG zusammengehe, wolle er mit den Mitgliedern besprechen, sobald sich der Verein vergrössert habe. Dass der Verein nun seine Arbeit aufnehmen könne, sei aber wichtig, gerade im Blick auf die unabhängige Studie, die die Bischofskonferenz zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Schweiz angekündigt habe. «Wenn dadurch wieder Bewegung entsteht, könnten weitere Betroffene einen Raum für ihre Erfahrungen suchen. Dann ist die IG da.» 

Weiter engagiert sich Vreni Peterer. Auch sie hat Missbrauch erlebt, weswegen sie sich als Überlebende und nicht als Betroffene bezeichnet. «Ich möchte, dass sexueller Missbrauch im kirchlichen Umfeld nicht vergessen wird», sagt sie und sieht den Beitrag der IG darin, «dass wir dranbleiben und darauf aufmerksam machen, auch in der Öffentlichkeit.» Peterer berichtet, dass sie in den letzten Jahren auch vertrauenswürdige Seelsorgende kennen gelernt habe, sodass sie jetzt an einem Punkt sei, sich als «Zeugin des Erlebten» in der Prävention ihres Bistums St. Gallen zu engagieren. Kürzlich hat sie ihre Geschichte zum ersten Mal im Rahmen einer Veranstaltung erzählt. «Ich möchte, dass jene, die in die Seelsorge einsteigen, von den Gefahren der Grenzverletzungen wissen und das Gesicht eines Opfers kennen.» 

Albin Reichmuth wundert sich, warum Betroffene für die Präventionsarbeit bislang kaum gefragt wurden. «Wir haben doch das Wissen, wir können eine authentische Geschichte erzählen!» Mit der Gründung der IG haben sie selbst einen Schritt gesetzt: Betroffenen bleibt nicht mehr nur zu warten, sie möchten handeln und sprechen.

Text: Veronika Jehle