Das Fundament des Widerstands

100 Jahre Sophie Scholl

Das Fundament des Widerstands

Am 9. Mai 1921 wurde Sophie Scholl geboren. Ihr kurzes, nur knapp 22 Jahre dauerndes Leben, wurde am 22. Februar 1943 durch die Nationalsozialisten gewaltsam beendet. Das Fundament, auf dem Sophie Scholl zu einem unauslöschlichen Vorbild für Zivilcourage wurde, war ihre Familie.

Hans und Sophie Scholl sind Vorbilder. Sie, die Mitbegründer der «Weissen Rose», einer Gruppe von Studenten aus München die sich dem Nazi-Regime widersetzte. Sie haben es der Mit- und Nachwelt unmöglich gemacht, mit leichtfertigen Entschuldigungen davonzukommen. «Wir haben es nicht gewusst» – «Wir waren zu jung, zu unerfahren und zu wenige, um gegen die Barbarei aufzustehen.» – All diesen Ausflüchten haben sie die Grundlage entzogen.

1942 wurden der 24-jährige Hans und seine 21-jährige Schwester Sophie im Schnellverfahren abgeurteilt, des Hochverrats für schuldig befunden und noch am selben Tage hingerichtet. Hans und Sophie Scholl sind Vorbilder. Wer aber waren ihre Vorbilder?

Es war im Ersten Weltkrieg, in einem Lazarett in Ludwigsburg, als ein junger Mann eine um zehn Jahre ältere Frau traf und sich in sie verliebte. Robert Scholl wurde in diesem Lazarett zum Sanitäter ausgebildet, weil er sich geweigert hatte, eine Waffe zu tragen und zu benutzen. Magdalene Müller tat hier Dienst, weil sie Krankenschwester war. 1916 heirateten die beiden und noch während des Krieges wurde der Verwaltungsfachmann 1917 in seine erste Bürgermeisterstelle berufen. 1920 folgte dann die zweite im süddeutschen Forchtenberg. Dort blieb die Familie Scholl zehn Jahre lang, bis Robert Scholl 1930 bei den Wahlen unterlag. Dort kamen auch die meisten der fünf Kinder zur Welt: Inge, Hans, Elisabeth, Sophie und Werner. Ähnlich wie in einem Pfarrhaushalt war damals nicht nur der Mann als Bürgermeister gefragt. Auch seine Frau Magdalene übernahm viele Aufgaben in der Gemeinde.

Als die Bürger von Forchtenberg sich für einen anderen Bürgermeister entschieden, machte sich Robert Scholl selbständig und liess sich in Ulm als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater nieder. Hier verbrachten seine Kinder den grössten Teil ihrer Schulzeit, hier lebte die Familie bis nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als die Nationalsozialisten an die Macht kam, gehörte Robert von Beginn weg zu deren Kritikern. Hellsichtig und nüchtern wusste er von allem Anfang an, dass von ihnen nichts Gutes zu erwarten war. Seine heranwachsenden Kinder hingegen sahen das anders. Sie waren begeistert von der Hitler-Jugend, weil hier ein abwechslungsreiches Freizeitprogramm geboten wurde. Die Eltern liessen sie schliesslich gegen ihre Überzeugung in diese Naziorganisation eintreten, in der Hoffnung, dass sie sehr bald selber die Hohlheit und Gefährlichkeit dieser Bewegung entdecken würden.

Damit legten Robert und Magdalene ein erstaunliches und mutiges Zeugnis ihres Vertrauens in die eigenen Kinder und die eigene Erziehung ab. Schon bald ging auch Hans und Sophie ein Licht auf, erkannten sie das Böse hinter dem schönen Schein. Sie hatten einen Blick hinter die Kulissen getan und wussten nun aus eigener Erfahrung, was sich dahinter verbarg - und das war eine Erfahrung, die sie nie mehr vergassen. Damit war mit Sicherheit das Fundament ihres späteren Widerstand gelegt - auch dank Eltern, die wussten, wann sie ihren Kindern eigene Erfahrungen zumuten durften und mussten.

Fortan wurde die Familie Scholl mit ihrem Freundeskreis zu der Keimzelle des Widerstands und es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass hier die «Weisse Rose» dem Geist nach entstand.

Dennoch verbargen Hans und Sophie ihren Einsatz für den Widerstand sorgsam vor den Eltern. Sie wollten sie einerseits nicht als Mitwisser in Gefahr bringen, wollten aber auch nicht, dass die Eltern sich Sorgen machten. Interessanterweise war es zuerst der Vater, welcher der Gestapo ins Netz ging. Er wurde 1942 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, weil er in seinem Geschäft Hitler als «Geissel der Menschheit» bezeichnet hatte und von einer Mitarbeiterin denunziert worden war. Diese Verurteilung hatte weitreichende Folgen, Robert Scholl musste  sein Geschäft aufgeben und durfte seinen Beruf nicht mehr ausüben. In der Folge arbeitete er privat als Steuerprüfer für einen kleinen Kreis von Kunden.

Noch schlimmer aber kam es 1943. Im Februar wurden Hans und Sophie, sowie weitere Mitstreiter nach einer Aktion an der Münchner Universität gefasst und des Hochverrats angeklagt. Die Situation war praktisch aussichtslos, zumal der berüchtigte Nazischerge Roland Freisler den Vorsitz hatte. Irgendwie gelang es Robert und Magdalene in den Gerichtssaal zu kommen – und was sie dort miterleben mussten, war grauenvoll. Diese Aburteilung «Gerichtsverhandlung» zu nennen, war blanker Hohn, selbst der zwangsbestellte Verteidiger spielte dem Regime in die Hände. Als es Robert nicht mehr aushielt und selbst die Verteidigung seiner Kinder übernehmen wollte, wurde er aus dem Gerichtssaal entfernt.

Noch am gleichen Tag, am 22. Februar 1943 wurden Hans und Sophie geköpft – ermordet. Für beide Eltern und die Geschwister brach eine Welt zusammen. Bezeichnenderweise war es nun Magdalene, welche die Initiative ergriff. Sie bestand darauf, nach der Beerdigung in ein Restaurant etwas gutes Essen zu gehen, sie forderte hartnäckig, dass man Hans und Sophie zuliebe jetzt nicht resignieren dürfe. Das passt zur letzten Begegnung mit Sophie, an die Magdalene ihren Sohn Werner später in einem Brief erinnert: «Vielleicht hörtest du, wie ich zu Sophie sagte, aber gelt, Jesus, und wie sie zu mir fast befehlend sagte: ja – aber Du auch.»

Kurz nach der Hinrichtung ihrer Kinder sollte allerdings auch Magdalene ihren Lebensmut für lange Zeit verlieren, denn nur vier Tage nach der Hinrichtung von Hans und Sophie wurden die Eltern sowie ihre Töchter Inge und Elisabeth in Ulm in Sippenhaft genommen. Man warf ihnen sogenannte Rundfunkverbrechen vor, das Anhören verbotener Sender und Sendungen. Werner wurde nur deshalb nicht in Haft genommen, weil er als Soldat an der Front zu dienen hatte. Nach zwei Monaten wurde Elisabeth entlassen, Mutter Magdalene und Inge jedoch mussten fünf Monate lang im Gefängnis ausharren, Vater Robert wurde schliesslich gar zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.

Inge und ihre Mutter waren die meiste Zeit zusammen und konnten sich so gegenseitig beistehen, zum Vater jedoch waren Kassiber die einzige Möglichkeit der Kommunikation, heimlich geschmuggelte Briefe. Eine Auswahl dieser Kassiber ist in Buchform erschienen – ein erschütterndes und beeindruckendes Porträt einer aussergewöhnlichen Familie. Das Vorgehen, die Familie von Widerstandskämpfern in Sippenhaft zu nehmen, war während des Nationalsozialismus wie in jeder Diktatur an der Tagesordnung. Autoritäre Regimes wissen ganz genau, dass die Keimzelle für den Widerstand sehr oft in den Familien und ihren Freundeskreisen zu finden ist. So kann man nicht nur im Falle der Familie Scholl sondern beispielsweise auch der Familie Bonhoeffer und anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe vom 20. Juli 1943 diese starke Solidarität beobachten.

Wer die Briefe der Familie Scholl aus dieser Zeit liest, der wird Zeuge ihrer tiefen Trauer über den Tod von Hans und Sophie, ihrer Sorge um die Zurückgebliebenen und ihre Heimat, aber auch der Hoffnung auf eine trotz allem bessere Zukunft. Immer wieder fällt der tiefe Glaube auf, der sie getragen haben muss – er ist ganz unaufgesetzt da – eine Kraftquelle, die keiner weiteren Erklärung bedarf.

Nach ihrer Entlassung zogen sich Inge, Elisabeth und die Mutter auf einen Einödhof im Schwarzwald zurück, um so den Nachsetzungen der Gestapo zu entgehen. Zu ihnen gesellte sich nach seiner Entlassung aus der Haft im November 1944 auch Robert. Ein weiterer Verlust stand der Familie aber noch bevor, Werner, der jüngste Sohn, wurde an der Ostfront als vermisst gemeldet – seine Schwester Inge vermutete, er sei desertiert und deswegen hingerichtet worden.

Als der Krieg zu Ende war, hatten Robert und Magdalene fast alles verloren, Beruf, Eigentum und drei ihrer fünf Kinder – aber sie hatten ihre Integrität bewahrt, und die war jetzt plötzlich gefragt. 1945 wurde Robert gebeten, sich als Oberbürgermeister von Ulm zur Verfügung zu stellen – man brauchte Menschen mit einer unbedenklichen Vergangenheit. Bereits 1948 wurde er allerdings wieder abgewählt. Ein Grund dürfte gewesen sein, dass er und seine Familie den vielen Untätigen, Mitläufern und Mittätern eine unangenehme Mahnung war, die der Verdrängung hinderlich im Weg stand und deshalb weg musste. 1951 zogen Robert und Magdalene nach München. 1958 starb  Magdalene und wurde im Grab ihrer beiden Kinder Hans und Sophie beigesetzt. Robert Scholl heiratete 1960 ein zweites Mal. Er starb am 25. Oktober 1973.

Dass der Widerstand von Hans und Sophie Scholl nicht in Vergessenheit geriet, dafür sorgte ganz besonders Inge Scholl-Aicher mit ihrem 1952 erschienenen Buch «Die Weiße Rose». Seither erscheinen stetig neue Bücher zum Thema. Die meisten davon widmen sich Sophie Scholl, obwohl sie weder eine Gründerin noch eine treibende Kraft in der «Weissen Rose» war. Dennoch strahlt sie bis heute ein überwältigendes Charisma aus. So stark, dass leicht vergessen geht, wie sehr Sophies Haltung von ihrer ganzen Familie geprägt wurde.

Text: Thomas Binotto