Wahl durch Los

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Wahl durch Los

Es klingt gewagt: Wichtige Ämter durch das Los zu vergeben. Das Ökonomenpaar Margit Osterloh und Bruno S. Frey ist jedoch überzeugt, dass durch ein Zufallsverfahren gerade Führungspositionen rationaler, gerechter und produktiver vergeben werden können. 

Haben Sie zwischen sich schon einmal das Los entscheiden lassen?

Bruno S. Frey: Nein, wir versuchen durch Argumente eine Lösung zu finden …

Margit Osterloh: … und bis jetzt hat das ganz gut geklappt.

 

Wenn das Los entscheidet, denken wir unwillkürlich an Glücksspiel. Sie propagieren das Losverfahren für die Besetzung von Führungspositionen. Ist das nicht völlig irrational?

Osterloh: Überhaupt nicht! Es gibt sogar sehr rationale Gründe, die für das Losverfahren sprechen.

 

Welche?

Osterloh: Beispielsweise kommen dadurch Menschen zum Zuge, die bei einem herkömmlichen Wettbewerbsverfahren nicht berücksichtigt werden, Unterprivilegierte beispielsweise und Minderheiten.

 

Weitere Vorteile?

Osterloh: Wer in einem Losverfahren nicht gewählt wird, verliert dadurch nicht sein Gesicht. Die Nichtwahl lässt sich so leichter verkraften.

Frey: Und wer durch das Los gewählt wird, neigt sehr wahrscheinlich weniger zur Überheblichkeit. Reine Wettbewerbsverfahren verleiten zu Allmachtsphantasien. Die Gewinner fühlen sich als die Besten und damit allen anderen überlegen.

 

Wenn das Los entscheidet, triumphiert doch der Zufall über die Qualität.

Osterloh: Überhaupt nicht. Wir haben in Experimenten herausgefunden, dass sich beim Losverfahren beispielsweise doppelt so viele hochqualifizierte Frauen bewerben. Der Pool an qualifizierten Bewerberinnen und auch Bewerbern wird also grösser und nicht kleiner. Zudem propagieren wir ein fokussiertes Losverfahren.

 

Was bedeutet das?

Osterloh: Das fokussierte Losverfahren nutzt eine Kombination von Wettbewerb und Zufallsprinzip. Die Shortlist der wählbaren Personen entsteht wie gewohnt durch das Leistungsprinzip. Es kommen also nur Personen in die Verlosung, die für den Posten qualifiziert sind.

Weshalb bietet das Vorteile?

Frey: Bei der Besetzung von Führungspositionen habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass sich der Kreis an geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten schnell auf eine Handvoll Personen einschränkt. Dann aber wird es schwierig, weil man nun beispielsweise Kategorien miteinander vergleicht, die sich nicht vergleichen lassen.

 

Beispielsweise?

Frey: Wie soll man die etwas stärkere kommunikative Fähigkeit der einen Bewerberin gegen die etwas stärkere organisatorische Fähigkeit des anderen Bewerbers aufwiegen?

Osterloh: Und so entscheiden am Ende häufig Seilschaften oder persönliche Vorlieben. Also gerade nicht Qualitätskriterien.

 

Wird das Wahlgremium durch die Auslosung nicht einfach aus der Verantwortung entlassen?

Osterloh: In unserem Konzept kommt das Los erst dann zum Zug, wenn man an einem Punkt angelangt ist, an dem sich ein Entscheid rational nicht mehr begründen lässt. In diesem Moment geben wir einfach zu, dass wir nicht genug wissen. Das Losverfahren gesteht diese Unwissenheit ein und bezieht sie ins Verfahren mit ein.

 

Seilschaften können aber bereits bei der 
Vorauswahl darüber entscheiden, wer auf die Shortlist kommt.

Osterloh: Das stimmt. Als Mittel dagegen kann man auch bereits das Gremium, welches die Vorauswahl trifft, durch Los bestimmen. Selbst dann kann Korruption zwar nicht vollständig ausgeschaltet werden, aber grundsätzlich muss man doch festhalten: Der beste Korruptionsbekämpfer ist der Zufall.

 

Wo spielen Seilschaften in unserem System eine Rolle?

Osterloh: Bei der Wahl von Richtern. Dort ist die Parteizugehörigkeit ein entscheidendes Kriterium.

Frey: Wenn man hingegen die Menschen auf der Strasse fragen würde, ob Richter einer Partei angehören sollen, würden die meisten klar «Nein» sagen. Wir wollen unparteiische Richter. 

Osterloh: Und deshalb wurde die Justiz-Initiative lanciert. Durch das Losverfahren hätten wir garantiert unabhängigere Bundesrichterinnen und -richter.

 

Ich nehme nicht an, dass Sie das Losverfahren für jede beliebige Stellenbesetzung anwenden wollen?

Osterloh: Es geht ganz klar um Führungsaufgaben: in der Politik, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft. Es geht also um die Besetzung von begehrten Machtpositionen. Und dafür, dass das funktioniert, gibt es genügend historische Beispiele.

 

Welche?

Osterloh: Im antiken Athen, dann während des Mittelalters in den oberitalienischen Städten Florenz und Venedig oder im 18. Jahrhundert an der Universität Basel. Wir propagieren also nicht irgendwelche verrückte Schreibtischgedanken.

 

Frau Osterloh, Sie setzen sich seit Jahren auch für die Frauenförderung in der Wissenschaft ein. Was bringt das Losverfahren für dieses Anliegen?

Osterloh: Besonders viel! Faktisch haben die Frauen gegenüber den Männern heute einen Bildungsvorsprung. Das Argument, Frauen hätten nicht die Qualitäten für Führungsaufgaben, hat sich also komplett erledigt. Trotzdem sind sie in diesen Positionen immer noch deutlich in der Minderheit.

 

Was man beispielsweise durch die Quote ändern könnte.

Osterloh: Ja. Diese hat für Frauen jedoch den grossen Nachteil, dass sie nach der Wahl schief angeschaut werden. Man nennt sie Quotenfrauen und behandelt sie als Emporkömmlinge. Genau das wollen wir mit dem Losverfahren ändern. Mit diesem Verfahren werden sich mehr hochqualifizierte Frauen bewerben, weil sie keine Angst haben müssen, als Quotenfrau abqualifiziert zu werden. Und weil sie sich nicht mehr auf aggressive Wettbewerbe gegen Männer einlassen müssen.

 

Sollten sich Frauen nicht genauso dem Wettbewerb stellen wie Männer?

Osterloh: Ich bin überhaupt nicht gegen den Wettbewerb. Es geht auch bei einem fokussierten Losverfahren darum, die Leistungsfähigen zu finden. Aber in vielen Bereichen ist der reine Wettbewerb nicht nur positiv, weil sich darin Eigenschaften durchsetzen, die wir in der Führung gar nicht wollen.

 

Das Losverfahren soll also auch andere Führungstypen ermöglichen?

Frey: Ja, denn das Losverfahren verlangt sowohl vom Wahlgremium wie von den Gewählten Demut. Und genau das wird dazu führen, dass sich mehr Menschen zur Verfügung stellen werden, die bereits über Demut verfügen.

 

Dann führt also das Losverfahren auch zu einer Einschränkung der Macht?

Osterloh: Und genau deshalb sind die Mächtigen dagegen. Headhunter fürchten den Verlust an Einfluss. Chefs befürchten, damit ihre Zöglinge nicht mehr in Position bringen zu können. Was sie in ihrer Angst nicht sehen: Mit dem Losverfahren benötigt man erst recht gute Headhunter. Und man braucht Chefs, die den Nachwuchs breit fördern. Eine Wahlliste zusammenzustellen wird nämlich noch anspruchsvoller, weil das Los ja zwischen absolut gleichwertigen Kandidatinnen und Kandidaten entscheiden soll.

 

Nehmen wir als weiteres konkretes Beispiel eine Bischofswahl. Können Sie sich auch dafür das Losverfahren vorstellen?

Frey: Absolut! Natürlich müsste man zunächst eine Liste von gleichwertig Fähigen zusammenstellen. Aber dann könnte man das Los entscheiden lassen. Allerdings sollte man gleichzeitig eine Amtszeitbeschränkung einführen 

Osterloh: Denn das Prinzip der Rotation in Führungspositionen hat ähnlich positive Auswirkungen wie das Losverfahren.

Frey: Und vielleicht würde das sogar die Suche nach geeigneten Kandidaten leichter. Wer sagt von sich schon: «Ich will Bischof werden, weil ich der Beste bin»? Der koptische Papst wird übrigens noch heute aus einer Liste von drei Kandidaten per Los gewählt.

 

Wir haben jetzt viel von Personenwahlen und einem fokussierten Losverfahren gesprochen, also einer Kombination von Wettbewerb und Zufall. Gibt es auch Bereiche, in denen Sie das reine Zufallsprinzip anwenden würden?

Osterloh: Für Gremien, die eine Sachfrage von allgemeinem Interesse beraten, kann die Zusammensetzung durch reinen Zufall sinnvoll sein. Wir denken da beispielsweise an sogenannte Bürgerversammlungen. In diese Versammlung werden Bürgerinnen und Bürger durch das Los gewählt. Dadurch erhält man einen realistischen Querschnitt durch die Bevölkerung.

Frey: In Irland wurde die Bürgerversammlung bereits mit Erfolg institutionalisiert. Dort beraten 99 zufällig gewählte Bürgerinnen und Bürger über politische Themen und machen Empfehlungen an das Parlament. Das hat beispielsweise dazu geführt, dass das Abtreibungsgesetz und das Ehegesetz liberalisiert wurden.

 

Entspricht das nicht unserer direkten Demokratie?

Osterloh: Nicht ganz. Bürgerversammlungen beteiligen ein breiteres Spektrum an der politischen Diskussion. Es wird nicht Abstimmungskampf betrieben, sondern die Expertise der Bürgerinnen und Bürger gefördert. In der Schweiz gehen häufig nicht einmal die Hälfte der Stimmberechtigten zur Urne. Ein grosser Teil der Bevölkerung mischt sich in der direkten Demokratie gar nicht ein, ist desinteressiert oder überfordert. Bürgerversammlungen sollen die Demokratie nicht ersetzen, auch die direkte Demokratie nicht. Im Gegenteil: Sie stärken die Demokratie.

 

Welche Bürgersammlungen wären denn in der Schweiz denkbar?

Frey: Auf eidgenössischer Ebene, wo wir ja bereits zwei Kammern habe, sehe ich eine dritte Kammer nicht. Aber auf kantonaler Ebene wäre neben dem Kantonsrat eine zweite Kammer, eine durch Los gewählte Bürgerversammlung, eine grossartige Sache. Sie würde das Alte nicht abschaffen, sondern ergänzen. Dadurch würde die Demokratie neu belebt und verankert.

 

In vielen Ohren klingt «fokussiertes Losverfahren» exotisch. Wo wird es in der Schweiz konkret?

Osterloh: Der Schweizerische Nationalfonds  hat kürzlich beschlossen, bei der Vergabe von Forschungsmitteln das Losverfahren zuzulassen. Und die Justiz-Initiative, die das Losverfahren für Bundesrichterinnen und Bundesrichter verlangt, wird das Thema endlich in der breiten Öffentlichkeit zur Diskussion bringen.

Text: Thomas Binotto