Konfliktverwaltung statt Friedensprozess

Bericht aus Jerusalem

Konfliktverwaltung statt Friedensprozess

«Die gegenwärtige Einstellung der Feindseligkeiten hat unseren Familien vielleicht ein wenig Ruhe gebracht, aber die Probleme, aus denen diese Gewalt entstanden ist, nicht gelöst»

Die Worte des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa, am Vorabend von Pfingsten, fassen die Lage im Heiligen Land treffend zusammen. Unter Vermittlung Ägyptens einigten sich Israel und die Hamas auf einen Waffenstillstand. Elf Tage lang hatten radikale islamische Kräfte mehr als 4300 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel gefeuert, hatte Israel mit Luftangriffen auf 1500 Ziele im Gazastreifen reagiert. 13 Menschen in Israel wurden getötet, darunter zwei Kinder, drei Gastarbeiter und ein Soldat. Vorläufige Bilanz in Gaza: 248 Tote, darunter laut UN 129 Zivilisten, 66 von ihnen Kinder. Die Zahl könnte bei Aufräumarbeiten noch steigen. 

«Zynisch gesagt: Gut, dass die Gewalt jetzt eskaliert ist – lang genug weg vom Herbst, in dem wir die ersten deutschsprachigen Reisegruppen erwarten. Jetzt dürfte für die nächsten zwei, drei Jahre Ruhe herrschen.» Dieser Satz eines Reiseagentur-Inhabers trifft dieselbe bittere Wahrheit: Nach bekannten Mechanismen bricht der tieferliegende Konflikt in regelmässigen Wellen hervor. Behandelt werden allenfalls seine Symptome. Mit seinem Ende und einem echten Frieden rechnet hier derzeit keiner.

Diesmal jedoch scheint etwas noch Tieferes an die Oberfläche gekommen zu sein. Bekannt waren die Zutaten, die Jerusalem zu einem Pulverfass machen: kollidierende religiöse Feiertage, von Palästinensern als Erniedrigung empfundene Polizeimassnahmen, palästinensische Provokationen der Sicherheitskräfte im Gegenzug, ein sich immer weiter hochschaukelnder Kreislauf von Gewalt. Dazu drohende Zwangsräumungen palästinensischer Familien im Ostjerusalemer Stadtteil Scheich Jarrah zugunsten jüdischer Siedler – und Zusammenstösse an der heiligsten muslimischen Stätte im Heiligen Land, dem Haram al-Scharif, in jüdisch-christlicher Sprechweise bekannt als Tempelberg: Einen Monat lang brodelte es in Ostjerusalem. Dass die Gewalt dann auf den Gazastreifen übersprang, überraschte wenige. Nicht gerechnet hatte man hingegen mit ihrem Übergreifen auf die Strassen von Lod, Akko, Jaffa – auf jene Städte also, deren Zusammenleben von Juden und Arabern bisher als Beispiel der Koexistenz herhalten musste. Wut arabischer Israelis über viele Missstände machte sich in bürgerkriegs-ähnlichen Szenen Luft, ebenso über Jahre hinweg gezüchtetes radikales Gedankengut auf jüdischer Seite. Selten sind die Spaltungen der innerisraelischen Gesellschaft so deutlich zutage getreten. Welchen Schaden das fragile gegenseitige Vertrauen sowie das Vertrauen in den Staat im Mai 2021 genommen hat, wird erst die Zukunft zeigen.

Während die Hamas auch innerpalästinensisch als Gewinner hervorgeht, simmern die Spannungen in Jerusalem weiter. Auf dem Tempelberg stossen Palästinenser und Polizei weiterhin zusammen, in Scheich Jarrah treffen Blendgranaten und Wasserwerfer weiterhin (pro-)palästinensische Aktivisten. Zu den bekannten Problemen im israelisch-palästinensischen Konflikt haben sich diesmal neue Herausforderungen manifestiert, die jede weitere Runde der Gewalt noch bedrohlicher erscheinen lassen. Dass die Gewalt wiederkommen wird – sollte der Konflikt weiterhin nur verwaltet statt an den Wurzeln angegangen werden –, ist für die Menschen hier sicher. Die Frage ist nur: Wann?

Text: Andrea Krogmann