Zwischen Stuhl und Bank

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Zwischen Stuhl und Bank

Am 20. Juni begehen die Kirchen den Flüchtlingssonntag. Wir sind in der Notunterkunft Adliswil jenen Menschen begegnet, um die es geht.

Die Sonne strahlt auf die Container als versuche sie, die Baracken erstrahlen zu lassen. Adliswil sei die freundlichste Notunterkunft, heisst es, denn hier spielen Kinder auf dem Hof. Es leben nicht mehr als fünf, sechs Menschen in einem Raum. Es gibt Tageslicht.

Tatsächlich ist die Stimmung entspannt. Die meisten freuen sich auf den Veloausflug, den das Bündnis «wo unrecht zu recht wird» am Sonntag organisiert. Vor allem aber: Letzte Nacht gab es keine der Razzien, bei denen Polizei und das Staatssekretariat für Migration Familien inhaftieren, weil sie sich ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufhalten.

Safoura bringt uns Tee. Senait fragt, ob wir Kaffee möchten. Die herzliche Gastfreundschaft dieser Frauen ist berührend, sie geben dafür einen guten Prozentsatz des Tagesgeldes hin.

Safoura hat in ihrer Heimat mit Kindern zusammengearbeitet und ihre Arbeit geliebt. Ihre Augen leuchten, wenn sie davon berichtet. Nun betreut sie die Kinder in der Notunterkunft. In der Arbeit mit Kindern kann sie ihre derzeitige Situation für ein paar Stunden vergessen. Heute ist Feaven krank und muss im Bett bleiben.

Ihren Sohn Kidane immerhin kann sie unbesorgt draussen spielen lassen, denn nicht nur Safoura, alle im Lager passen mit auf ihn auf. Kidane klettert auf zerbrochenen Stühlen herum, während zwei andere Kinder auf einem ausgeblichenen Bodenschachbrett hin- und herhüpfen und versuchen, die schwarzen Felder zu überspringen. «Pass auf deinen Kopf auf!», warnt Amon, der alleinstehend im Lager lebt, aber Verantwortung für die Kinder mit übernimmt und die Familien so gut er kann unterstützt.

Derzeit leben rund 40 Personen in der Notunterkunft Adliswil, bei Höchststand waren es 110. Sie alle leben von der Nothilfe. Entweder warten sie auf einen Entscheid zu ihrem Asylgesuch oder sie haben bereits einen Wegweisungsentscheid erhalten, da ihre Fluchtgründe von den Behörden abgelehnt wurden. Nur: wohin sollen sie gehen? In ihre Heimatländer zurückzukehren, ist für niemanden hier eine Option.

Die Bewohnerinnen und Bewohner in der Notunterkunft teilen sich sieben Duschen, wovon momentan fünf defekt sind. Auch von den vier Kochherden funktionieren nur zwei. Wer auf die Toilette, zur Dusche oder in die Gemeinschaftsküche will, muss ins Freie über das Gelände gehen – und sei es noch so kalt.

Die Menschen hier versuchen, das Beste daraus zu machen. Sie kochen zusammen, teilen das Wenige, das sie haben. Einige Frauen tun sich in Gruppen zu fünft zusammen, so sparen sich alle täglich etwas von den 8 Franken und 50 Rappen Nothilfe ab und geben den Betrag einer aus ihrem Kreis, damit diese sich damit etwas Luxus leisten kann.

Safoura freut sich immer noch riesig, dass sie seit zwei Monaten ein Zimmer nur für sich hat. Während der letzten drei Jahre musste sie das kleine Zimmer mit drei weiteren Frauen teilen. Endlich stört sie niemand mehr nachts beim Schlafen. Endlich kann sie sich tagsüber auf das Deutschlernen konzentrieren.

Normalerweise besucht Safoura mehrmals die Woche Deutschkurse, die von Kirchen oder dem Verein «Bildung für alle« angeboten werden, doch Covid hat das im letzten Jahr unmöglich gemacht. Die Pandemie hat die Menschen in den Notunterkünften mit besonderer Härte getroffen. Abstand halten ist mit bloss einer Küche für das ganze Lager und nur einem kleinen Raum pro Familie unmöglich. Wer mit Covid infiziert ist, muss zur Isolation in den Coronacontainer hinter dem Lager.

NUK Adliswil</span><span> </span><span> 
NUK Adliswil  

Die NUK (Notunterkunft) Adliswil  gilt als «Familienunterkunft». Dort leben Männer, Frauen und Eltern mit Kindern verschiedenen Alters, zum Teil seit Jahren, in mehreren Containern auf engem Raum. Wegen Auflösung der NUK Adliswil während des Sommers werden die Familien den Ort verlassen und in die NUK Hinteregg transferiert.

Nun öffnen die Schulen von kirchlichen und freiwilligen Trägern zögerlich wieder. Darüber ist auch Amon froh, der einen Tag in der Woche in der «Autonomen Schule» aushilft. Es hilft, sinnvolle Aufgaben zu haben, die die Woche strukturieren, ganz besonders wenn man nicht arbeiten darf und in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. 

Mit 60 Franken pro Woche sind nicht einmal kleine Sprünge möglich. Es reicht kaum für Essen, Seife und Winterstiefel, geschweige denn für ein Billett in die Stadt. Wenn Amon der Isolation dennoch entkommen und den Deutschunterricht besuchen will, bleibt ihm kaum eine andere Wahl als schwarzzufahren. Vor kurzem wurde er wieder dabei erwischt. Die Busse kann er unmöglich zahlen und muss sie vermutlich bald im Gefängnis absitzen. Noch bedrückender: Amon muss befürchten, dass wegen dieser Vorstrafe sein Härtefallgesuch abgelehnt wird.

Eine Verhaftung lauert ständig. Personen, die keine Papiere haben, können jederzeit festgenommen werden, weil sie sich aus Sicht der Behörden illegal in der Schweiz aufhalten. Normalerweise lieben Kinder das Hornen von Polizeiautos, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeugen. Wenn die Kinder in der Notunterkunft solche Laute hören, steht ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben. Sie befürchten dann, dass ihre Mutter oder ihr Vater von Polizisten in Vollmontur abgeholt werden.

Safoura kennt die Angst, jederzeit auf der Strasse verhaftet zu werden, allzu gut. Sie wurde schon mehrfach ins Gefängnis abgeführt. Wegen illegalen Aufenthalts in einem Schweizer Gefängnis zu sitzen, zieht sie der Rückkehr in ihr Herkunftsland dennoch vor, denn dort würde sie sicher verhaftet und als politische Gefangene in eines der berüchtigten Gefängnisse gesteckt.

Wie alle anderen hier bleibt Safoura nur der Strohhalm, dass sie über ein Härtefallgesuch irgendwann doch noch eine Aufenthaltsbewilligung erhält. Und die Hoffnung, dass sie das Warten, die Isolation und die Angst bis dahin nicht vollständig zermürben.

Erst gestern hat Senait einen Bekannten getroffen, der nach bald zwei Jahrzehnten in der Schweiz endlich als politischer Flüchtling anerkannt wurde. Senait berichtet, dass sie ihm gratuliert und sich für ihn gefreut habe. Der Bekannte jedoch schüttelte nur deprimiert den Kopf. Das bringe ihm jetzt auch nichts mehr, nach den Erfahrungen in den letzten Jahren wolle er nichts weiter, als zu sterben.

Auf dem Heimweg bemerken wir neben den Containern der Notunterkunft das Gebäude der Rudolf-Steiner-Schule. Schweizer Eltern aus Adliswil und Umgebung bringen ihre Kinder hierhin, damit sie bestmöglich gefördert werden.

Viele Familienväter und -mütter in der Notunterkunft Adliswil sind in die Schweiz geflohen, um ihren Kindern bessere Bildung und mehr Chancen für die Zukunft zu ermöglichen. Doch es ist schwierig, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren, wenn die ganze Familie in nur einem Raum lebt und keinerlei Perspektive hat.

Alle Namen wurden zum Schutz der Personen geändert.

Text: Miriam Bastian