«Wer unsere Kirche zerstört, zerstört unsere Identität»

Gott und die Welt

«Wer unsere Kirche zerstört, zerstört unsere Identität»

Im äthiopischen Bundesstaat Tigray herrscht seit November 2020 Bürgerkrieg. Beteiligt sind auch Kräfte aus Eritrea. Grausame Massaker zerstören Menschen, Gotteshäuser und Tiere. Ein Mann aus dem Norden Äthiopiens, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss, erzählt.

forum: Ein Teil Ihrer Familien lebt in Tigray. Wann haben Sie zuletzt von Ihren Angehörigen gehört? Ist eine Kommunikation überhaupt möglich?

Meine Familie lebt in der Stadt Aksum, die am 28. und 29. November von eritreischen Soldaten  angegriffen wurde. Wochenlang hörte ich gar nichts, die Telefon-, Strom- und Internetverbindungen nach Tigray waren unterbrochen. Am 13. Januar 2021 habe ich herausgefunden, dass ich vier Cousinen und Cousins verloren habe, viele enge Verwandte wurden gefangen genommen. Getötet wurde aus meinem engsten Kreis zum Glück niemand. Doch auch für meine Cousinen und Cousins fühlte ich den gleichen Schmerz, wie ich für meine Eltern oder Geschwister gefühlt hätte. Es war eine schreckliche Erfahrung für uns alle.


Was hat das Leid Ihrer Familie mit Ihnen gemacht?

Ganz Tigray ist meine Familie. Es waren grausame Monate. Ich konnte nicht schlafen, nicht essen, nicht einmal mehr beten. In der ganzen Region wurden Millionen Menschen Geiseln einer Regierung, die sie doch eigentlich beschützen und in Sicherhalt halten sollte. Wir sind bis heute traumatisiert.


Was genau war im November in Aksum passiert?

Die Stadt wurde von eritreischen Soldaten beschlagnahmt. Gezielt griffen sie die St.-Maria-von-Zion-Kirche an, zerstörten sie, töteten Priester und massakrierten hunderte von dort Schutz suchenden Gläubigen. Sie missbrauchten Kinder und Frauen. Ein unglaubliches Verbrechen, dass eine Schockwelle durch ganz Tigray sandte.


Was bedeutete diese Tat für die äthiopisch-orthodoxe Kirche?

Die St.-Maria-von-Zion-Kirche ist der wichtigste Pilgerort von Äthiopien. Sie ist die heiligste aller Kirchen und unser aller Stolz. Von hier aus verbreitete sich die orthodoxe Kirche über ganz Äthiopien. Eine Nebenkappelle beheimatet die Bundeslade, jene Truhe aus Akazienholz, in der laut biblischer Erzählung unter anderem die Steintafeln der zehn Gebot aufbewahrt werden. 

Tigray ist ein ganz besonderer Ort, es ist die Wiege der alten Zivilisation und Religion.

Mit ihren Gräueltaten griffen die eritreischen Truppen zusammen mit der äthiopischen Nationalarmee das Herz der Orthodoxen Kirche an. Sie hatten keinen Respekt für unsere Geschichte und unsere Kirche. Sie bombardierten auch unser ältestes Kloster und eine bedeutende Moschee, das älteste Gotteshaus in Subsahara-Äthiopien überhaupt. Historische und religiöse Bücher und Archive, die zu verschiedenen Klöstern und Kirchen gehören, wurden geplündert. 


Wie ordnen Sie diese Taten ein?

Mir scheint, dass die Orthodoxe Kirche und damit das Christentum in Äthiopien zerstört werden soll. Sie ist die Manifestation der Geschichte Äthiopiens – wer sie zerstört, zerstört unsere Identität und auch einen Teil unseres Landes: Tigray.

Über 93 Prozent der Menschen aus Tigray sind gottesfürchtige und tiefgläubige Orthodoxe. In einer Krise suchen sie in der Kirche Schutz und Trost. Doch nun, da die Kirchen zerstört sind – wo gehen die Menschen hin?

Vielleicht ist das der grösste Schock: dass die eigene Staatsregierung unsere heiligen Stätten und damit unser Innerstes angriff. Zum ersten Mal in unserer Geschichte. Selbst das ungläubige sozialistische Regime von 1974 bis 1991 verschonte unsere religiösen Einrichtungen.


Wie sieht die Lage in Tigray jetzt allgemein aus?

Desaströs. Es gibt keine Nahrungsmittel, keine Medikamente, keine Infrastruktur. Es herrschen Hungersnot und Dürre. Viele Äcker liegen brach, weil Bauern Angst haben, sie zu bestellen, oder weil das Saatgut fehlt. Die gewalttätigen Konflikte halten an, ein Ende ist nicht in Sicht. Bald beginnt die Regenzeit – dann wird alles nur noch schlimmer.

Hintergrund

Äthiopien und sein Kampf gegen Tigray

Seit November 2020 ist der nördliche Bundesstaat Tigray zur Kriegszone geworden, nachdem Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed eine Militäroffensive gegen die Regionalregierung unter der Führung der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) anordnete. Inzwischen sind die Kämpfe zu einem brutalen Konflikt eskaliert.

Die Wurzeln des Konflikts reichen zurück ins Jahr 2018, als der damals 41-jährige Abiy Ahmed Premierminister wurde. Er kündigte Reformen an, liess politische Gefangene frei und schloss ein Friedensabkommen mit dem Erzfeind Eritrea. Sein Aufstieg markierte zugleich das Ende einer  drei Jahrzehnte dauernden Herrschaft der Tigrayer über Äthiopien, welche das Land mit eiserner Hand regiert hatten. Abiy formte eine neue Einheitspartei ohne Beteiligung der TPLF. Tigrayer wurden aus der Armee und dem Regierungsdienst entfernt und auch im Alltag diskriminiert. Für den Sommer versprach der Premierminister Parlamentswahlen, setzte sie aber wegen der Pandemie aus. Im September beschloss die TPLF, dennoch Wahlen abzuhalten. Abiy strich der Region daraufhin die Finanzmittel. Im November brach der Konflikt zwischen den Tigrayern im Norden und der Zentralregierung offen aus. Da die äthiopische Armee den Kampf nicht allein bestehen kann, verbündete sich Abiy Ahmed mit dem eritreischen Diktator Isaias Afwerki, dem einstigen Erzfeind. Nun terrorisieren nicht nur äthiopische Truppen den Bundesstaat, sondern vor allem auch Eritreas Truppen.

Am 29. Juni hat Äthiopiens Regierung auf Grund der katastrophalen humanitären Bedingungen im Land eine Waffenruhe in der umkämpften Region ausgerufen. 

Bis vor kurzem ist erstaunlich wenig über diesen extrem brutalen Krieg an die Weltöffentlichkeit gedrungen …

Nun, die ersten paar Monate herrschte ein totales Blackout, alle Kommunikationskanäle waren unterbrochen. Der UNO sowie internationalen Medien war der Zugang zu Tigray untersagt, ein Verifizieren der Lage vor Ort damit unmöglich. Bis heute sind Recherchen im Kriegsgebiet oft zu gefährlich. Aus entlegenen Regionen dringen deshalb noch immer kaum Informationen nach aussen. 


Worin liegt Ihrer Meinung nach der Ursprung des Konflikts, der Tigray zum Kriegsschauplatz machte?

2018 bestimmte die äthiopische Regierungspartei Abiy Ahmed zum neuen Präsidenten. Im August 2020 wurde die turnusmässig anstehende Parlamentswahl durch die äthiopische Regierung und die äthiopische Wahlkommission um ein Jahr verschoben, mit der offiziellen Begründung, dass eine reguläre Wahl unter der grassierenden Covid-Pandemie nicht möglich sei. Damit zeigte sich die in der Region Tigray regierende Volksbefreiungsfront nicht einverstanden und hielt ihre Wahlen trotzdem ab. Danach verschärften sich die Spannungen zwischen Regional- und Zentralregierung. Die Zentralregierung warf Tigray vor, eine regionale Armeebasis in Tigray angegriffen zu haben. – Am 5. November 2020 ordnete Premierminister Ahmed eine Militäroffensive gegen Tigray an. An den Menschenrechtsverletzungen, die daraufhin folgten, waren auch Truppen  aus dem benachbarten Eritrea beteiligt.

Für die Behauptung, die tigrinischen Streitkräfte hätten die Militärbasis angegriffen, fehlt jedoch jede Evidenz. 

Die Wurzel des Konflikts liegt meiner Meinung nach eher darin, dass sich die Regierung von Tigray weigerte, sich der One-Man-Show von Ahmed zu unterwerfen, und dieser seinerseits das in Tigray gewählte Parlament nicht anerkannte.


Abiy Ahmed wurde ursprünglich als Hoffnungsträger gefeiert. Er liess politische Gefangene frei und verbotene Parteien wieder zu. Und er schloss Frieden mit Eritrea. Ein Jahr später erhielt er 
dafür den Nobelpreis. Zu früh?

Natürlich hofften wir nach Jahren der Repression auf einen Neuanfang. Auf ein vereinteres Äthiopien und Frieden zwischen Äthiopien und Eritrea. Die Versöhnung der beiden Grenzländer sollte zu integrativer Zusammenarbeit und damit wirtschaftlichem Fortschritt führen.

Doch wir wurden vom glamourösen Auftritt Ahmeds in die Irre geführt. Was für ein Frieden soll das sein? Was führt Ahmed im Schild? Warum hat er sein eigenes Volk an Eritrea verraten und dessen Truppen ins Land gelassen? Abiy Ahmed hat keine Vision für Äthiopien. Verliebt in Macht und Glorifikation verfolgt er seine eigenen Interessen.

Die Regierung hat uns an einen ausländischen Feind verkauft – wie können wir uns noch Äthiopier nennen? Und, frage ich mich: Wie kann ich dieser Regierung noch vertrauen?

 

Was müsste denn geschehen, dass der Krieg gestoppt werden könnte?

Die eritreischen Soldaten müssten gezwungen werden, unser Land zu verlassen. Alsdann müssten die verhungernden Menschen in Tigray gerettet werden. Und schliesslich müssten sich die Zentralregierung und die Regierung von Tigray zum Dialog an einen Tisch setzen und eine Lösung des Konflikts aushandeln. Wir brauchen Frieden.

Text: Pia Stadler