Die Stille leuchtet blau-golden

Im Züripiet dihei

Die Stille leuchtet blau-golden

Zu ihrem 20. Geburtstag hat die Bahnhofkirche eine blau-goldene Stele in ihrer Kapelle aufgestellt. Der Raum der Stille und die Gesprächsangebote werden ungebrochen nachgefragt.

Eine ältere Dame kommt vom Seelsorgegespräch aus dem kleinen Zimmer. Ruth Anderegg, seit 17 Jahren Freiwillige der Bahnhofkirche, spricht sie freundlich an, trägt ihr das Gepäck zur Türe und verabschiedet sie. Auf der anderen Seite des Vorraumes geht es in die Kapelle. Hier stehen inzwischen wieder fünf Stühle bereit für Ruhesuchende in der Hektik des Bahnhofalltages. Symbole der grossen Weltreligionen schmücken die Wand, das farbige Fenster taucht den Raum in warmes Licht. Seit Pfingsten steht hier bis Mitte August auch eine Stele. Das leuchtende Lapislazuli-Blau, goldumrandet, erinnert an Ikonen, an den Sternenhimmel oder an Maria. 

«Die Idee zu einem Kunstwettbewerb entstand an einem Team-Tag kurz vor dem ersten Lockdown», erzählt die Bahnhofsseelorgerin Rita Inderbitzin. «Wir waren hoffnungsvoll, dass es  besser wird und wir die ausgewählte Kunstinstallation zum 20-Jahr-Jubiläum der Bahnhofkirche zeigen können», ergänzt ihr Kollege Jürgen Rotner. Und es hat geklappt. «Seit die Stele hier steht, kommen wieder mehr Leute in die Kapelle – das kann aber natürlich auch daran liegen, dass die Corona-Situation sich entspannt.» Die Seelsorge-Gespräche kamen allerdings auch im harten Lockdown nie zum Erliegen: «Wir haben sofort auf Telefon-Gespräche aus dem Home-office umgeschaltet», sagt Inderbitzin. «Erstaunlicherweise haben sich viel mehr jüngere Menschen gemeldet, die eher nicht zu Gesprächen in die Bahnhofkirche kommen», ergänzt ihr Kollege Jürgen Rotner. Auch jetzt, wo Gespräche von Angesicht zu Angesicht wieder möglich sind, wird das Telefon-Angebot weitergeführt, da die Nachfrage weiterhin da ist.

Nicht nur ein Kunstwerk war das Resultat des Team-Tages der Bahnhofseelsorge vor einem Jahr. «Wir haben neue Flyer gestaltet und begonnen, in allen Betrieben im Bahnhof vorbei-zugehen und uns vorzustellen», sagt Inderbitzin. «Wir sind ja nicht nur für Passantinnen und Passanten, sondern auch für alle Angestellten da», betont Rotner. «Besonders Muslime, die hier arbeiten, sind dankbar für die Möglichkeit, bei uns ihre Gebete verrichten zu können.» Den Betrieben werden auch Weiterbildungen für ihre Mitarbeitenden angeboten: zu Beziehungs-, Arbeits- und Sinnfragen zum Beispiel. Dank einer neuen Fleece-Weste mit aufgesticktem Bahnhofkirche-Logo und -Schriftzug sind die Bahnhofseelsorgenden auch ausserhalb ihrer Räumlichkeiten erkennbar. Eine Plakat-Aktion in allen Trams soll den Bekanntheitsgrad der Bahnhofkirche weiter steigern. 

Nach der Flughafenkirche war die Bahnhofkirche vor 20 Jahren die zweite sogenannte «Geh-hin-Kirche». Der damalige Weihbischof Peter Henrici erklärte an der Synodensitzung vom 29. Juli 2000, welche das Pilotprojekt Bahnhofkirche schliesslich bewilligte: «Mindestens seit vier Jahren ist mir klar, dass es in einer Stadt wie Zürich so etwas braucht: ein absolut niederschwelliges, seelsorgerliches Angebot, wo man sehr anonym eintreten kann.» Auf der Suche nach einem Ort für dieses Angebot habe sich der Hauptbahnhof als der Ort, wo die meisten Menschen durchgehen, angeboten. Das Projekt wurde von Anfang an ökumenisch getragen und startete mit einem katholischen und einem reformierten Seelsorger zu je 100 Prozent. Das Angebot wurde seit Beginn rege wahrgenommen: Im ersten Betriebsjahr besuchten täglich bis zu 300 Personen die Kapelle und drei bis vier Personen wünschten ein Seelsorgegespräch. Bereits im ersten Betriebsjahr starteten auch die «Weg-Worte», täglich vorgetragene spirituelle Impulse, und die Arbeit zusammen mit Freiwilligen.

Ratsuchende aller Art kommen nach wie vor in die Bahnhofkirche. «Manche fragen, auf welchem Gleis ihr Zug fährt oder welche Verbindungen sie nehmen müssen, oder wo die Schliessfächer sind», erzählt die Freiwillige Ruth Anderegg. «Wenn die Leute bei uns sind, geben wir natürlich Auskunft. Manche fragen, wo in der Nähe eine Kirche sei oder wann es Gottesdienste gibt, und Moslems suchen die nächste Moschee.» Wie alle Freiwilligen der Bahnhofkirche ist sie einmal pro Woche für eine Schicht von dreieinhalb Stunden engagiert, dazu eine Wochenend-Schicht pro Monat. Ihre Motivation: «Es ist interessant, vielen unterschied-lichen Menschen zu begegnen. Man weiss nie, was auf uns zukommt.» Sie nahm vor Jahren die Gelegenheit wahr, an einem Seminar für Freiwilligen-Arbeit teilzunehmen, wo sie ihr Praktikum in der Bahnhofkirche absolvierte und dann auch ihre Abschlussarbeit darüber schrieb. 

«Das Angebot ist heute aktuell wie vor 20 Jahren», sagt die Bahnhofseelsorgerin. «Es trifft ganz offensichtlich ein Bedürfnis.» Entsprechend der höheren Frequenzen im Hauptbahnhof kommen auch – abgesehen von der Corona-Zeit – mehr Leute in die kleine Kapelle oder zu Gesprächen. 2019 wünschten rund 10 Personen täglich ein Gespräch. Deshalb sind heute auch vier Seelsorgende zu insgesamt 280 Stellenprozenten tätig. Und die Weg-Worte werden nicht nur in der Kapelle vorgelesen, sondern an inzwischen 1000 Newsletter-Abonnenten täglich verschickt. Nicht nur Einzelpersonen suchen Ruhe oder ein Gespräch. Konfirmanden- oder Firmgruppen, Schulklassen oder Betriebe lassen sich die Erfahrungen in der Bahnhofkirche näherbringen. «Ich bin selber immer wieder fasziniert von der Stille in unserer Kapelle, wenn man aus dem Bahnhofrummel kommt», sagt Rotner. «Das ist eine Qualität, die auch den Jugendlichen auffällt.» Bis zur  Finissage der Kunstinstallation vom 25. August leuchtet diese Stille blau-golden. 

Text: Beatrix Ledergerber