Ich und meine Natur

Editorial

Ich und meine Natur

Es ist Mittwochnachmittag. Ich sitze hier im Trockenen, während sich vor meinem Fenster die nächste Gewitterwolke aufbaut und landesweit Seen und Flüsse über die Ufer treten.

Wir Menschen haben ein schwieriges Verhältnis zur Natur. Wir lieben sie und fürchten sie. Wir glauben, dass wir sie mit unserer Technik beherrschen können. Oder wir hoffen, dass sie uns ganz liebhat, wenn wir ganz lieb mit ihr sind. Wir versuchen, sie durch Beherrschung zu zähmen oder durch Unterwerfung zu besänftigen. Wir vermenschlichen sie, ob wir sie nun als Feind oder als Freund beschreiben.

In beiden Extremen lauert die Überheblichkeit eines Menschen, der sich im Mittelpunkt sieht. Entweder als Herrscher, der sich die Natur untertan macht. Oder als Nutzniesser, der von der naturbelassenen Natur dankbar umsorgt wird. Ob nun brachial oder sanft: Wir träumen insgeheim wohl alle davon, die Natur im Griff zu haben.

Die Naturgewalt des Wassers erinnert mich daran, dass wir Menschen nur ein Teil der Natur sind. Wir belasten das Ökosystem wie jedes andere Lebewesen. Wir bringen es aber auch zum Blühen. Wir überleben dank der Natur. Und wir sterben durch die Natur. Wir fressen, und wir werden gefressen.

Ob ich nun an einen Gott glaube oder nicht – angesichts der Natur und all ihrer mich übersteigenden Grandiosität kann ich nur demütig werden. Ich bin nicht Zentrum, sondern Teil, denn so wenig wie sich das Universum um die Erde dreht, so wenig dreht sich die Natur um mich. Ist es wirklich so unvernünftig, aus dieser Erkenntnis heraus mit dem Beten anzufangen?

Text: Thomas Binotto