Stiegen zum Himmel

Reise ins Südtirol

Stiegen zum Himmel

Sie heissen «Stiegen zum Himmel» und verbinden nicht nur das Dies- mit dem Jenseits, sondern auch den Kanton Graubünden mit dem Südtirol: die Kirchen und Kapellen, Schlösser und Klöster, die mit -ihren Fresken und Skulpturen eine alpine Strasse der Romanik bilden. Auf mittelalterlicher Spurensuche. Erstmals publiziert in der Ausgabe 17/2011.

 Auf einem Hang hoch über Burgeis leuchten die weissen Mauern des Benediktinerklosters Marienberg. Der mächtige Bau beeindruckt durch seine Geschlossenheit und die hohe, fensterreiche Fassade, die ihn wie eine Festung erscheinen lassen. Sein kunsthistorisches Juwel jedoch liegt verborgen in der romanischen Krypta: im gedrungenen Gewölbe tanzen Engel auf und nieder, während an der gegenüberliegenden Wand das himmlische Jerusalem herabschwebt. Ein Mönch mit Schlüssel macht klar: Das Mönchtum ist der Schlüssel zum Himmel.

Das von den Fürsten von Tarasp um 1200 gestiftete Kloster ist der unübertroffene Auftakt zu einer Vielfalt von Stätten mit romanischer Kunst im Bündnerland und im Südtirol. Über 50 von ihnen haben sich zum Projekt «Stiegen zum Himmel» zusammengeschlossen. Trutzige Burgen und imposante Schlösser, farbenfroh ausgemalte Kirchen und einsame, stille Kapellen, malerische Dörfer und Städtchen in ganz unterschiedlichen Kulturlandschaften machen ihren Reiz aus. An diesem Seitenarm der alten Römerstrasse Via Claudia Augusta, welche den süddeutschen Raum mit Norditalien verband, entstanden im Mittelalter grössere Siedlungen mit zahlreichen Kirchen. Die erhaltenen Fresken zeigen romanische Bildqualität, die in Europa ihresgleichen sucht. 

Hochmittelalterliche Kunst

«Die ‹Stiegen zum Himmel› öffnen den Blick auf die hochmittelalterliche Kunst, welche den Himmel vor Augen erstehen lässt», erklärt Kunsthistoriker Leo Andergassen, Direktor des Denkmalamtes der Provinz Bozen. Zu den Höhepunkten zählen im Südtirol neben Marienberg, welches den Malern des Klosters St. Johann im schweizerischen Müstair als Vorbild diente, die Kirchen 
St. Benedikt in Mals, St. Margareth in Lana und Maria Trost in Meran, die Burgkapelle Schloss Hocheppan sowie die kleine Pilgerkirche St. Jakob in Kastelaz.

Und natürlich die St.-Prokulus-Kirche in Naturns. «Ein Kleinod und ein grosses Geheimnis», sagt Leo Andergassen. Das kleine Bauwerk beherbergt vorkarolingische Fresken aus der Zeit um 700, die ältesten des deutschen Sprachraums. Mangels Vergleichsmöglichkeiten lassen sie sich nur schwer einordnen. An der Südwand versucht der heilige Prokulus mit einer Art Schaukel über die Stadtmauer von Verona zu fliehen, die Westwand zeigt eine Tierprozession, welche durch die Zwölfzahl die geordnete Symbolik späterer Jahrhunderte vorwegzunehmen scheint. Das unterirdische Museum neben der Kirche macht 1400 Jahre Geschichte durch Exponate und Videoprojektionen lebendig.

Germanen, Bajuwaren, Römer sind an diesem kleinen Gotteshaus vorbeigezogen, und wenn es auch zu manchen Zeiten nur ein profanes Haus war – für die Menschen war das Gebäude dennoch immer etwas Besonderes, und all die Bewohner, Bittsteller und Betenden haben hier ihre Spuren hinterlassen. «Die Grösse spielt bei diesem winzigen Bau wie auch in der Krypta von Marienberg überhaupt keine Rolle. Die Heiligkeit des Ortes wurde stets ernstgenommen», sagt Leo Andergassen. So wurde denn die Kirche in späteren Jahrhunderten nicht abgerissen, sondern aufgestockt, wie die über den romanischen Darstellungen liegenden gotischen Fresken zeigen. 

Weltliche Verkörperung des tirolischen Mittelalters ist das Schloss Tirol, das dem Land seinen Namen gab. Auf einem das Meraner Becken beherrschenden Moränenhügel entstand schon im 11. Jahrhundert das Stammschloss der Grafen von Tirol, welches durch Um- und Zubauten laufend vergrös-sert wurde. Mit romanischen Skulpturen in herausragender Qualität geschmückte Eingangsportale weisen den Weg durch die Rittersäle zur Burgkapelle mit einer frühgotischen Kreuzigungsgruppe, gotischen Altären und romanischen Fresken. «Das Heilige und das Profane liegen hier sehr nahe beieinander: Man muss die Welt durchschreiten, um ins Paradies und die Erlösung zu gelangen», sagt der Kunsthistoriker. 

Was fasziniert Leo Andergassen denn eigentlich an diesen «dunklen» Jahrhunderten zwischen Antike und Neuzeit? «Ich mag ihre Ausdrucksformen: diese jenseitigen Räume, die im Diesseits liegen. Die von Menschen gebauten Himmelsräume, heilige Orte, die nicht eigentlich zur Nutzung, sondern als illusionistische Anspielung gebaut wurden. Romanische Kunst sagt in Bildern viel Geheimnisvolles aus, ohne auf Fragen eine letzte Antwort zu geben.»

Die «Stiegen zum Himmel» zu begehen, heisst, die Gegenwart hinter sich zu lassen und in eine fremde Welt einzutauchen. Es heisst, den Reichtum einer Zeit zu entdecken, die dem Jenseits alles untergeordnet hat.  

Text: Pia Stadler