«Kneipp war ein Visionär»

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«Kneipp war ein Visionär»

Wer war Sebastian Kneipp und wie entwickelte er seine Heilkunde? Ein Gespräch mit Kneipp-Expertin Paola Rauscher, Stadträtin von Bad Wörishofen, dem Entstehungsort der Kneipp-Heilkunde.

Paola Rauscher, was würde  Sebastian Kneipp von den Kneipp-Produkten halten, die heute in Supermärkten und Drogerien erhältlich sind?
Paola Rauscher: Sebastian Kneipp war es immer ein wichtiges Anliegen, mit den Einnahmen, die er durch seine Behandlungen, Bücher und Produkte erzielte, die Ärmsten der Armen zu unterstützen. Deshalb hat er kurz vor seinem Tod die Rechte an seinem Namen verkauft. Er konnte natürlich damals noch nicht wissen, was das auf längere Sicht bedeutet. Aus heutiger Sicht wären andere Lösungen vielleicht sinnvoller gewesen. Für mich und unseren Kurort war sehr bedauerlich, dass die Kneipp-Teefabrik in Bad Wörishofen geschlossen und nach Würzburg verlagert wurde.

Mit der Präsenz im Supermarkt bleibt Kneipp zumindest im Bewusstsein?
Vielleicht wird so der eine oder andere auf Kneipp und seine Heilkunde aufmerksam.

Was fasziniert Sie an Sebastian Kneipp?
Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf und litt selbst schon früh an Krankheiten. Trotzdem gab er den Glauben an sich nie auf. Dass er trotz aller Rückschläge, Widerstände und Ablehnungen nicht verbittert war und konsequent und mutig seinen Weg gegangen ist, das imponiert mir. In ihm war ein starker Glaube und die Zusage Gottes: Du hast Talent, mach etwas daraus. Er legte Wert darauf, anderen Menschen Mut und Lust auf das Leben zu machen. Wichtig scheint mir: Sebastian Kneipp war ein Kind  seiner Zeit.

In was für eine Welt wurde er hineingeboren?
In sein Geburtsjahr fielen viele Ereignisse, die für die damalige Zeit einschneidend waren: Es herrschte eine grosse Not, ausgelöst unter anderem durch eine kleine Eiszeit, die Ernteausfälle und eine «Teuerung», eine grosse Inflation, zur Folge hatte. In dieser Zeit ist auch das Trostlied «Stille Nacht, heilige Nacht» entstanden. Die medizinische Versorgung war schlecht und viele konnten sich keinen Arzt leisten.

Wie entwickelte Kneipp seine Heilkunde? 
Einen wesentlichen Anteil hatte sicherlich seine Mutter. Sie hat ihn sehr geprägt. In der Kindheit gab es oft Sauerkraut und Kartoffeln – eine einfache Küche. Kräuter aus der Umgebung waren ein fixer Bestandteil. Sie nahm ihren Sohn mit hinaus auf die Wiese. Schon als Kind bekam er mit, wie wichtig die Natur für den Menschen ist. Seiner Mutter gelang es, mit dem konsequenten Einsatz von Wacholderbeeren die Familie und viele andere Menschen im Dorf vor einer Cholera-Ansteckung zu schützen. Sebastian sah, wie eine Kuh ihr verletztes Bein in den Bach stellte und einige Zeit später wieder laufen konnte. Auch merkte Sebastian Kneipp, dass er als Kind im Sommer draussen in der Natur gesünder war als im Winter drinnen, im Keller, beim Weben. Daraus entwickelte er seine Fünf-Säulen-Lehre. Dass er seine Lehre etablieren konnte, dazu trugen auch sein Theologie-studium und seine Funktion als Priester bei: Als Seelsorger kam er mit Menschen in Kontakt und hatte auch Zugang zu den  Kranken.

Wie kam sein Einsatz bei den Bischöfen an?
Bei den Menschen war er beliebt, immer mehr suchten bei ihm Rat. In kirchlichen Kreisen aber stiess er auf viel Gegenwind. Er war sozusagen ein Seelsorger des Leibes, er verstand Seelsorge ganzheitlich – zu dieser Zeit ein absolutes Novum. Der Bischof und die anderen geistlichen Oberen nahmen Sebastian Kneipp zwiespältig wahr, doch sie liessen ihn gewähren. Kneipp kam zugute, dass er auch viele Priester heilte. Viele wurden dank ihm wieder gesund und waren ihm deshalb zeitlebens dafür dankbar. Auch das Dominikanerinnen-Kloster von Bad Wörishofen profitierte sehr von seinem Hausgeistlichen Kneipp, es kam durch ihn zu Wohlstand und auch die Landwirtschaft profitierte von seinem Wissen. Doch die eigentliche Absolution erhielt er erst kurz vor seinem Tod, als sich Papst Leo XIII. von ihm behandeln liess. 

Wellness ist heute ein grosser Wirtschaftszweig und viele entdecken die Natur wieder.  
Profitiert die Kneipp-Heilkunde davon?
Kneipp war für seine Zeit visionär: Er war überzeugt, dass die Nähe zur Natur dem Menschen gut tut und das beste Heilmittel gegen alle Krankheiten der Zivilisation ist. Er erkannte zum Beispiel auch, dass gerade das Leben in beengten räumlichen Verhältnissen in Städten die Ausbreitung von Infektionskrankheiten beschleunigt. Seine Heilkunde zielt darauf ab, das Immunsystem zu stärken. Daher ist sein Wissen aktueller denn je. Doch heute werden oft schnelle Sofort-Lösungen gesucht. Wenn etwas weh tut, schluckt man eine Tablette. Kneipp setzte mit seinem Fünf-Säulen-Modell auf Langfristigkeit. Es geht nicht um Symptom-bekämpfung, sondern darum, Körper und Seele ganzheitlich im Blick zu haben.

Text: Interview  Stephan Sigg  Pfarreiforum St. Gallen