Unbequeme Botschaften

Glaubens-Perspektiven

Unbequeme Botschaften

«Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen», hat der deutsche Politiker Helmut Schmidt (1918 – 2015) einmal gesagt. 

Es ist ein geflügeltes Wort geworden, um Ideen abzutun oder ins Lächerliche zu ziehen. Als ob die Welt ohne Visionen besser klarkäme, wenn wir alle brav rational und pragmatisch blieben. Ein solcher Scheingegensatz zwischen rational und irrational entlockt mir ein müdes Lächeln. Biblisch betrachtet nämlich können gerade Visionen ausserordentlich rational sein, wenn ich an die alttestamentlichen Prophetenbücher denke. Jeremia ist einer dieser Propheten, der für seine Visionen von den Politikern seiner Zeit zwar nicht zum Arzt geschickt, aber gefesselt und in den Schlamm einer Zisterne gestellt wurde (Jer 38, 4–13). Auch kam er immer wieder vor Gericht.

Visionen waren zwar in alttestamentlicher Zeit nicht so verpönt wie im 20. Jahrhundert. Jedoch dachten wohl die Herrschenden, man könne unbequeme Botschaften loswerden, wenn man die Überbringer loswird. Natürlich scheiterten sie mit dieser Strategie, der Verlauf der Geschichte gab jeweils den Propheten recht. Daher wurden sie im Nachhinein verehrt und ihre Worte 
gesammelt und überliefert. Allerdings konnten sie in ihrer Zeit manchmal nur ratlos zusehen, wie ihre Visionen nicht ernst genommen wurden. So auch Jeremia: Er hat so oft vor der Gefahr gewarnt, dass Jerusalem zwischen den Grossmächten zermalmt würde, wenn es unkluge Bündnisse schliesst. Seine Warnungen wurden abgetan, er musste den Untergang Jerusalems miterleben (Jer 37–39).

Natürlich liegt dahinter ein Weltbild, das so gar nicht mehr das unsere ist: Ein unsichtbarer Gott zieht im Hintergrund die Fäden, alles Ergehen der Menschen ist Lohn oder Strafe. Was mich jedoch mehr fasziniert als das zu einfach gestrickte Geschichtsbild, ist, dass die Visionen, in denen Propheten von Gottes Wirken sprachen, oft gar keine irrationalen Weissagungen waren. Nein, man darf Propheten nicht mit «Wahrsagern» verwechseln, vielmehr sind sie «Wahrheitssager» gewesen. Menschen also, die Wahrheiten gesehen oder angesprochen haben, die andere gerne verdrängten. Ihre enge Verbindung zu Gott, ihre Berufung, ermöglichte es ihnen, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen und Unverständnis, Verfolgung und Folter auszuhalten. Dabei hatten Propheten häufig einen durchaus rationalen Blick auf die Welt, wenn auch in sehr bildhafte Sprache verpackt.

Heutige Wahrheitssagerinnen und Wahrheitssager verwenden dagegen oft eine rationale Sprache, zeigen Tabellen und Berechnungen, stützen sich auf wissenschaftliche Ergebnisse – ich denke an Suchtberater oder Virologinnen oder Klimaforscher. Das Irrationale sind kaum ihre Aussagen oder vielleicht ihre Visionen (Berechnungen), sondern die tauben Ohren, auf die sie immer wieder stossen. 

Text: Christine Stark Bibelwissenschafterin und Pfarrerin in der Reformierten Kirchgemeinde Zürich Witikon