Afghanistan fordert mich

Kolumne

Afghanistan fordert mich

Ich bin eine «Bindestrich-Schweizerin». Ich habe zwei Muttersprachen, Deutsch und Dari, oder sollte ich schreiben: Dari und Deutsch? 

Ich kenne mich bestens aus mit verschiedenen kulturellen Referenzsystemen und kann ziemlich einfach codeswitchen. Meine Identitätsfindung und -bildung hat viel Arbeit in Anspruch genommen, die manchmal bis heute andauert. 

In den letzten Wochen war das vor allem schmerzhafte Arbeit. Die Bilder und Nachrichten, die uns aus Afghanistan erreicht haben, haben verletzt. Neben der Schweizerin in mir war auch meine afghanische Identität gefordert. Wie viele andere in meinem Umfeld wusste ich nicht, welche Rolle ich aus der Schweiz heraus einnehmen muss. Da war die Heimat meiner Eltern, in der sich eine grausame Geschichte wiederholt. Da war meine Heimat, die Schweiz, die sich aus ihrer humanitären Verantwortung zieht. Da war meine Arbeit, welche die Vision nach einer besseren und gerechteren Schweiz verkörpert. Und da war ich, die seit Jahren nicht mehr in Afghanistan war und das Land vor allem aus Erzählungen ihrer Eltern kannte. 

Was kann ich machen und was darf ich machen? Die Ohnmacht, die viele Menschen in der Diaspora erleben, ist schwierig in Worte zu fassen. Die Frage, wie diese Ohnmacht in Handlungen verwandelt werden kann, war nebst dem gegenseitigen Trostspenden wohl Thema in vielen Wohnzimmern. Welcher Art von Engagement bedarf es? Wo wird unsere Stimme gebraucht? Wo kann sie nützlich sein und wo richtet sie Schaden an? 

In asymmetrischen Diskursen, die von globalen Macht-Ungleichheiten geprägt sind, sind Reflexionen zu diesen Fragen entscheidend. Gerade für Personen, die aus einer privilegierten Position heraus beobachten, analysieren und zum Diskurs beitragen. 

Ich kam zum Schluss, dass ich aus der Diaspora nicht für die Menschen in Afghanistan sprechen kann. Ich verfüge nicht über Expertise nur aufgrund meiner Verwurzelung. Es ist nicht an mir, Frauen und Männer zu repräsentieren, die sich seit Jahrzehnten unermüdlich für ein besseres Afghanistan einsetzen, sich gegen terroristische Regimes erheben und dafür Risiken in Kauf nehmen. 

Was ich in der Schweiz machen kann: Ich kann mir und anderen Informationen zugänglich machen. Ich kann auf Personen aufmerksam machen, indem ich beispielsweise auf die differenzierten Diskurse innerhalb von aktivistischen Kreisen in Afghanistan verweise. Das ist mitunter auch ein wichtiger Schritt, um der Dehumanisierung in der Krise etwas entgegenzusetzen. Es macht klar, dass sich hinter den Schlagzeilen und Zahlen Menschen befinden, Menschen mit Agency, die selbst Subjekte ihrer Geschichten sind. In den eurozentrischen Berichterstattungen scheint mir das immer wieder in den Hintergrund zu treten.  

Weiter verstehe ich es als Teil meiner Rolle, meine Heimat, die Schweiz, auf ihre Pflichten aufmerksam zu machen: Sie an die Menschenrechtskonvention zu erinnern und daran, dass Menschenrechte nicht verhandelbar sind. Jeder Mensch in Lebensgefahr hat das Recht auf Asyl. 

Es war dieses Recht, das es mir ermöglicht hat, «Bindestrich-Schweizerin» zu werden. Es gab mir auch die Möglichkeit, die Zukunft der Schweiz mit meinem Wissen, meinen Erfahrungen und meinen Fähigkeiten aktiv mitzugestalten.

Text: Zeinab Ahmadi