Frauen und ihr Hunger

Glaubens-Perspektiven

Frauen und ihr Hunger

Der Herbst als Erntezeit hat mich an das Buch Rut aus der Bibel erinnert. Es ist ein regelrechtes Kunstwerk.

Wie eine Novelle erzählt es von Hunger und Ernte, Tod und Leben. Die Worte «Novelle» und «erzählt» habe ich bewusst verwendet, denn das Buch Rut ist kein Tatsachenbericht, sondern Literatur. Fiktion also? Ja. Doch gerade als durchkomponierte Erzählung entfaltet die Geschichte ihre tiefere Wahrheit. Am besten lesen Sie sie selbst und geraten ins Staunen über die fromme Kunstfertigkeit des unbekannten Autors oder vielleicht sogar der unbekannten Autorin. 

Ein paar Gedanken tippe ich hier gerne für Sie an: Es beginnt mit einer Hungersnot, die auch Bethlehem trifft, dessen Name doch so viel bedeutet wie «Brothausen». Von dort flieht Noomi mit ihrem Mann und den beiden Söhnen ins Nachbarland Moab. Wenn sie Jahre später wieder zurückkehrt, weil Gott wieder genug Brot gibt (Rut 1,6), sind die Männer verstorben. Doch kommt die Witwe Noomi nicht allein, sondern bringt Rut mit, ihre ebenfalls verwitwete, moabitische Schwiegertochter. Das erste Kapitel hat eine tragische Bilanz: Vier Personen verlassen Bethlehem, zwei Personen kommen wieder dorthin zurück. Zwar hat Noomi in der Fremde überlebt, aber ihre Familie verloren. Mit Rut bringt sie nun eine Fremde mit, die ihrerseits ihre Familie für sie verlassen hat. 

Im zweiten Kapitel geht es ums Überleben in einer Gesellschaft, in der Eigentum und Erwerb Männern vorbehalten ist. Um etwas zu essen zu haben, sammelt Rut während der Ernte auf einem Feld liegengebliebenes Korn. Der Besitzer namens Boas schützt sie vor Übergriffen durch seine Feldarbeiter, ja er weist seine Leute sogar an, mehr liegen zu lassen, damit Rut genug für Noomi und sich auflesen kann. So gewährt er ihr Schutz und Nahrung, aber nicht aus sich heraus, sondern weil er Rut, die Fremde, unter Gottes Schutz sieht (Rut 2,12). Die Bilanz des zweiten Kapitels atmet Hoffnung: Zwei Witwen können überleben, ein Mann handelt gottesfürchtig, junge Frauen und junge Männer bedrängen die Fremde nicht. 

Nun ist dieser Boas nicht irgend-jemand, sondern ein Verwandter von Noomis verstorbenem Mann und somit berechtigt, dessen Land zu ihren Gunsten auszulösen. Daher wagen die Witwen im dritten Kapitel alles, und die Erzählung verdichtet sich geradezu romantisch, wenn Rut auf Noomis Geheiss Boas nachts aufsucht. Vor dem schier unausweichlichen Happy End bringt Boas im vierten Kapitel noch einen näheren Verwandten dazu, auf seinen Erbanspruch zu verzichten. Zu guter Letzt bekommen Rut und Boas einen Sohn. 

Die Bilanz des ganzen Buches ist grandios: Dieser Knabe soll der Grossvater von König David sein. Noomi, die Mann und Söhne verloren hat, hat einen gottesfürchtigen Schwiegersohn und einen Enkel gewonnen. Die verwitwete Moabiterin Rut, die ihre Heimat verlassen hat, wird in der Fremde zur Stammmutter. 

Text: Christine Stark