Deine Gefühle sind  nicht meine Gefühle

Glaubens-Perspektiven

Deine Gefühle sind nicht meine Gefühle

Wir haben die Fähigkeit, uns von Gefühlen anderer anstecken zu lassen. 

Es gibt wunderbare «Ansteckungen»: Wenn ich auf einem Konzert der Musik zuhöre und mich mitreissen lasse von der Freude, vielleicht auch der Melancholie eines Musikstückes; wenn ich bei einem Sportanlass mitfiebere oder wenn ich beim Lesen eines Buches oder bei Filmszenen mitlachen und mitweinen kann. Wir lassen uns «anstecken» von den Gefühlen in einer konkreten Situation oder von anderen Menschen. «Gefühlsansteckung» wird das genannt. 

Manchmal aber lasse ich mich auch von negativen Gefühlen anstecken, in der Partnerschaft, in der Familie, von Kolleginnen und Kollegen. Vielleicht lasse ich mich anstecken, wenn Kollegen oder Kolleginnen über den Chef oder Kunden schimpfen. Vielleicht lasse ich mich von der schlechten Stimmung meines Partners, meiner Partnerin anstecken. Und hoffentlich habe ich immer wieder auch Menschen im Umfeld, die mich mit ihrer Lebensfreude und ihrem Lachen anstecken.

Der Begriff «Gefühlsansteckung» geht auf Max Scheler zurück, es ist eine angeborene Fähigkeit, sie geschieht, ohne dass wir sie bewusst steuern, wir können aber – wenn wir sie als belastend wahrnehmen – bewusst gegensteuern. 

Es gibt viele Beispiele zu erzählen: Wenn Babys in einem Raum sind, und eines beginnt zu schreien, schreien die anderen auch. Und wenn das Lachen – wie manchmal als Kind im Gottesdienst – verboten ist, muss (fast) sicher ein Kind lachen, und schon lachen die anderen mit. Wenn jemand gähnt, gähnen wir häufig ebenfalls, wenn sich jemand verletzt, leiden wir mit. Und: Wenn Menschen verliebt sind, ahmen sie einander in der Körperhaltung und der Gestik nach. Konkret kann eine Person im gemeinsamen Gespräch die Hand nachdenklich zum Gesicht führen, und die andere Person macht das auch. Ich finde es spannend, sich selbst und andere Menschen zu beobachten, wie wir uns «anstecken» lassen.

Empathie baut auf dieser Fähigkeit der Gefühlsansteckung auf. Empathie ist keine Emotion, sondern eine Reaktion auf die Emotion eines anderen Menschen. Empathie ist die Fähigkeit, Emotionen und Absichten einer anderen 
Person zu erkennen, zu verstehen und darauf zu reagieren. Oder – kurz gesagt: mitzufühlen, was andere fühlen. Empathie heisst auch zu erkennen, dass die Gefühle der anderen Person nicht meine eigenen Gefühle sind, sondern dass ich mit den Gefühlen einer anderen Person mitschwinge. Empathie beinhaltet, dass ich mir bewusst bin, dass die Absichten der anderen Person nicht mit meinen eigenen Absichten übereinstimmen müssen, sondern dass ich die Absichten einer anderen Person wahrnehmen kann.

Das sagt sich leicht, aber will immer wieder geübt werden: Ich kann meine Gefühle und deine Gefühle wahrnehmen. Ich kann mich anstecken lassen, ich kann deine Absichten und deine Gefühle erkennen, und ich kann mitfühlen. Aber ich weiss, dass deine Gefühle nicht meine Gefühle sind. 

Text: Helga Kohler-Spiegel