Wie wir gelebt haben wollen

Im Züripiet dihei

Wie wir gelebt haben wollen

Der Filmpreis der Zürcher Kirchen wurde am Zurich Film Festival zum fünften Mal vergeben. Vor der Entscheidung erzählt Jury-Präsidentin Lucie Bader, was sie bewegt, wenn sie mit den Jurymitgliedern einen Film auswählt.

7.30 Uhr am Morgen – wir sitzen beim Frühstück an einem Tag des Zürcher Filmfestivals. Was erwartet Sie heute?
Lucie Bader: Heute ist der Tag der Entscheidung unserer Jury vom Filmpreis der Zürcher Kirchen. Da bin ich natürlich immer gespannt und zugegeben auch ein bisschen nervös. Ich weiss noch nicht so genau, in welche Richtung das Gespräch gehen wird. Und die Gespräche in einer Jury sind ja sehr intensiv, man bringt sich da stark ein.

Heisst das, es wird in der Jury gestritten?
Ja, wir setzen uns sachlich und argumentativ auseinander! Wir haben zwölf Filme zusammen angeschaut und die wirken ganz unterschiedlich auf die einzelnen Jury-Mitglieder.

Alle Filme werden zuerst zusammen angesehen?
Tatsächlich, wir sind zusammen im Kino und haben einen Fahrplan. Meistens schauen wir zwei Filme pro Tag.

Und dann?
Danach ist Zeit, einen Café zu trinken oder etwas Kleines zu essen. Manchmal entstehen dann schon erste Gespräche zum Film, den man eben gesehen hat. Spätestens bei der Jury-Sitzung am Schluss geht es darum, alle Filme für sich mit den anderen nochmals Revue passieren zu lassen. Dann kommen auch die Kriterien zum Zug, die für den Filmpreis der Zürcher Kirchen gelten.

Welches Kriterium ist Ihnen persönlich am nächsten?
Ich könnte nicht sagen, es wäre nur eines. An oberster Stelle steht für mich die künstlerische Qualität eines Films. 

Woran machen Sie diese Qualität fest?
Das ist einerseits die formale Umsetzung einer Geschichte und andererseits natürlich der Inhalt. Form und Inhalt bedingen sich, können aber auch weit auseinander liegen. Bei der Preisvergabe denken wir immer an ein Publikum – der Film muss vermittelbar sein.

Vermittelbar?
Ein Film, der rein für sich selbst dasteht, aber keine Publikumsorientierung erfüllt, steht bei mir in diesem Kontext nicht an oberster Stelle.

Es geht womöglich darum, dass ich als Kinobesucherin den Film mit Vergnügen sehen kann, dass ich die Geschichte verstehe, dass sie nicht allzu abstrakt ist?
Die Geschichte darf abstrakt sein und vergnügen muss sie nicht. Ich finde, Filme sollen anregen, sie sollen einen zum Reflektieren bringen, sie brauchen ein emotionales Wirkungspotenzial. Wenn mich der Film kaltlässt, dann sehe ich ihn nicht für diesen Preis.

Sie sind das vierte Mal Präsidentin dieser Jury. Was reizt Sie persönlich daran?
Für mich persönlich ist es natürlich toll, mit anderen Expertinnen im interdisziplinären Kontext über Filme zu sprechen. Das ist für mich Weiterbildung, Herausforderung und auch ein Vergnügen.

Ihre Augen leuchten, wenn Sie davon erzählen.
Man hat eben nicht immer die Möglichkeit, sich über Filme so intensiv auseinanderzusetzen. Für mich ist es ein Privileg, in der Jury mitzuwirken.

Sie führen auch ein Unternehmen und produzieren unter anderem Filme. Begonnen hat alles während Ihrer Studienzeit mit einem Film über das Kapuzinerkloster Solothurn. Warum ausgerechnet darüber?
In unserer studentischen Gruppe stand am Anfang eine Frage, die auch heute noch eine ist: Wie wollen wir zusammenleben? Ursprünglich hatten wir dazu einen Film über Kommunen drehen wollen. Unser Professor, Stephan Portmann, damaliger Leiter der Solothurner Film-tage, winkte ab: Filme über Kommunen gebe es schon viele, ausserdem wirke das so nach 60er- Jahren, und jetzt würden demnächst die 80er- Jahre beginnen. Er meinte, viel spannender wäre es doch, wenn wir uns das Zusammen-leben in einem Kloster ansehen würden.

War es tatsächlich spannend?
Ich war überrascht. Es hat mir ermöglicht, kirchliches Leben und Religion erstmals von einer an-deren Seite kennen zu lernen, nach meiner streng 
religiösen, katholischen Erziehung auf dem Land.

Was ist der Sinn und die Bedeutung davon, dass Kirchen einen Filmpreis vergeben?
Für mich zeigt der Filmpreis die Ernsthaftigkeit und den Willen der Kirchen, mit der Zeit zu gehen und sich auseinanderzusetzen mit aktuellen Themen und mit dem Film, einem zeitgenössischen Medium.

Ist der Filmpreis wie eine Bühne für die Kirchen?
Sicher, er erhöht ihre Sichtbarkeit nach aussen und ist ein Ort, an dem Austausch geschieht mit der Gesellschaft an einem grossen Publikums-anlass wie dem Zürcher Filmfestival. Andererseits: Ich erhoffe mir auch, dass der ausgezeichnete Film im kirchlichen Umfeld genützt werden kann, sei es im Unterricht oder in der Arbeit mit Erwachsenen. 

Sie haben von der Auseinandersetzung mit aktuellen Themen gesprochen. Welche haben die Jury bewegt?
In unseren Gesprächen habe ich eine Frage stark herausgehört: Wie wollen wir gelebt haben? Das heisst auch, welche Missstände wollen wir ein für alle Mal beseitigen? Ich glaube, wir fühlen uns in einer Situation, in der wir nicht wegsehen dürfen. Wir müssen die Verantwortung tragen dafür, was wir heute tun, und wie wir die Zukunft gestalten wollen. Das sind soziale, ethische, ökologische Fragen, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Das Medium Film eignet sich dafür ganz besonders, weil wir heute in einer Bild-Welt leben und weil die Bilder uns ermöglichen, uns zu messen, zu spiegeln, neue Visionen zu entwickeln.

Noch steht nicht fest, welcher Film den Preis der Kirchen gewinnen wird. Verraten Sie uns Ihren persönlichen Favoriten? 
Was soll ich sagen? Und was ist, wenn ich dann unterliege?

Das würde ja zeigen, dass Sie in einem demokratischen Prozess entscheiden. Ist der Entscheid übrigens tatsächlich demokratisch?
Ja, und ich hoffe nicht, dass ich wieder in die Situation komme, das Zünglein an der Waage zu sein. 

Könnte es also knapp werden zwischen zwei Filmen?
Ich denke, das könnte so sein. Wir sind in der Jury zu fünft, und bei Gleichstand muss die Präsidentin entscheiden. Denn wir wollen tatsächlich nur einen Preis vergeben, um die Wirkung auf einen Film zu konzentrieren. Ich glaube, ich lasse die Frage offen und lasse mich überraschen, auch von meinen Kolleginnen und Kollegen in der Jury.

Text: Veronika Jehle