Den Gwunder wecken

Hintergrund

Den Gwunder wecken

Simon Brechbühler und Meinrad Furrer wollen mit «Kirche urban» nicht Erwartungen erfüllen, sondern betonen das Experimentelle, Suchende, Unfertige.

«3:33 Weiler», «weit&», «URBN.K». Diese Projekttitel von «Kirche urban» verbergen mehr, als sie enthüllen. Aber wenn man Simon Brechbühler und Meinrad Furrer zuhört, beginnt man die Absicht dahinter zu verstehen. Immer wieder betonen sie das Experimentelle, Suchende, Unfertige. Sie sprechen deshalb auch nicht von Angeboten. Sie wollen nicht Erwartungen erfüllen, sondern den Gwunder wecken.

Wir treffen die beiden bei einer Waldhütte oberhalb von Albisrieden. Kühles Wetter – grossartiger Blick auf Zürich. Brechbühler leitet «Kirche urban» seit gut zwei Jahren. Meinrad Furrer begleitet das Projekt als Beauftragter für Spiritualität bereits seit der Pilotphase 2017.

Dass wir uns nicht in Büroräumen treffen, ist auch ein Statement. «Kirche urban» soll nicht am Schreibtisch entwickelt werden und hat nicht fixe neue Strukturen zum Ziel. Im Auftrag des Dekanats der Katholischen Kirche in der Stadt Zürich sollen Menschen aus Zürich erreicht werden, «welche nicht im traditionellen Pfarreileben beheimatet sind». So steht es im Leitbild.


Zeitgemässe Sprache – neue Ästhetik

Eingeleitet wird das Leitbild mit: «Kirche urban entwickelt und erprobt hybride Formate von Kirche – zeitgemäss und urban.» Und etwas griffiger formuliert?

Brechbühler will für die Kirche und ihre Inhalte vor allem eine neue, zeitgemässe Sprache finden. Furrer versucht Schätze der Tradition in neuer Ästhetik und neuem Kontext zugänglich zu machen.

Furrer sieht sich dabei jedoch nicht bloss als Vermittler. Die Zusammenarbeit mit jungen Designern haben ihm beispielsweise im Projekt «weit&» die Augen für modernes Storytelling geöffnet. In dieser Zusammenarbeit mit der «Zürcher Hochschule der Künste» werden Kirchenräume wieder neu als spirituelle Erfahrungsräume zugänglich gemacht.

In einem Projekt mit Tänzerinnen und Tänzern hat er von deren liturgischem Gespür gelernt. Das Mitwirken bei der «Pride» sei für ihn zu einer der schönsten Erfahrungen überhaupt geworden. Im Fastenprojekt «40 Tage» musste er sich wieder hinterfragen lassen. Begeistert hält er fest: «Die Abwesenheit von Selbstverständlichkeit ist super!»

Auch Brechbühler schätzt diese Offenheit. Es geht ihm nicht darum, eine Parallelkirche zu entwickeln oder eine Spezialpfarrei zu gründen. «Kirche urban» soll innerhalb und ausserhalb der katholischen Kirche Räume schaffen, in denen Dinge ausprobiert werden und Neues zum Wachsen gebracht wird. «Es ist nicht unser Ziel, alles auf urban zu trimmen.» 

Kritische Fragen

Dennoch musste und muss sich «Urbane Kirche» auch kritischen Fragen stellen. Knapper werdende finanzielle Mittel lassen kritische Stimmen daran zweifeln, dass dieses Projekt zum Kernauftrag der Katholischen Kirche gehört. Auch die Angst, dass hier zu den Angeboten der Pfarreien eine Konkurrenz entsteht, müssen ausgeräumt werden.

Obwohl «Kirche urban» im Dekanat inzwischen gut verwurzelt ist, braucht es ab und zu immer noch ein dickes Fell, das geben Brechbühler wie Furrer freimütig zu.

Allerdings benötigen sie ihre Standfestigkeit nicht nur nach innen. Auch nach aussen ist es nicht immer leicht, als Vertreter der Katholischen Kirche wahrgenommen zu werden. Auch da gilt es, Unverständnis auszuhalten. Beiden spürt man jedoch das Bestreben und auch die Lust an, gleich in zwei Richtungen anwaltschaftlich zu wirken. Sie bringen einerseits in die Kirche die Anliegen von Menschen ein, die sich jenseits kirchlicher Verortung für Spiritualität und Sinnfragen interessieren. Sie wollen aber auch ein neues Kirchenbild in das säkulare Stadtleben tragen.

Das jüngste Projekt passt gut zu dieser Haltung. Vor zwei Jahren kam Brechbühler mit einer verrückten Idee aus Berlin zurück: Eine Telefonkabine als «Pop-up-Kirche». Bald soll sie Wirklichkeit werden. Ein Eyecatcher für Anlässe wie das «Zürifest». Und eine Herausforderung für Experimentierfreudige jeder Couleur. Wer sich in die Kabine stellt, kann zwischen Karaoke-Singen und Erinnerungsfoto wählen. Die Lieder werden eine religiöse Dimension haben. Die Fotos können mit einem Segensspruch ergänzt werden. Auch hier werden alle zum Dialog herausgefordert, ob sie nun traditionell verankert oder lose spirituell interessiert sind.


On- und Offline-Welten

Welten entdecken und in einen Austausch bringen, das scheint Brechbühler wie Furrer zu faszinieren. Auch wenn es um Online- und Offline-Welten geht. Daher das Wort «hybrid» in der Präambel des Leitbilds. Die sozialen Medien, der digitale Raum gehören fest zum Lebensraum heutiger Menschen. Sie gehören deshalb ebenso fest zum Experimentierfeld von «Kirche urban». Auch das versteht sich als Erweiterung und nicht als Konkurrenz zu den Pfarreien. Durch «brot und liebe», eine gemeinsame Feier via Zoom, oder das Social-Media-Fastenprojekt «40 Tage» wird niemand vom traditionellen Gottesdienst «abgezogen». Neue Formen sollen neue Menschen ansprechen.

Momentan träumt Furrer davon, auch das Kirchenjahr neu zu entdecken. Nicht nur dort, wo es ohnehin schon beheimatet ist, sondern dort, wo die Menschen heute leben, im vielgestaltigen, 
weiten Raum der Stadt Zürich.

Text: Thomas Binotto