Papst Leo X. und seine Verkennung von Luthers Reformbestreben

Essay

Papst Leo X. und seine Verkennung von Luthers Reformbestreben

Als Papst Leo X. am 1. Dezember 1521 starb, hinterliess er eine Kirche, die sich innert kürzester Zeit gespalten hatte. Götz-Rüdiger Tewes führt in die Lebens- und Gedankenwelt von Papst Leo X. ein.

Zeitgenossen rügten Papst Leo X.: Er habe zu Beginn der lutherischen Bewegung nicht auf den römischen Dominikanerinquisitor Silvester Prierias gehört. Dieser hatte gegenüber dem Papst die Häresien in Luthers Buch über den Ablass aufgezeigt. Der Medici-Papst soll darauf lediglich geantwortet haben, Luther sei geistreich und es handle sich bloss um einen Streit unter Mönchen. Deshalb, so die Kritiker, habe Leo X. durch sein zögerliches Verhalten ein kleines Feuer zu einem Brand werden lassen. Hätte er die Flamme sofort gelöscht, wäre es nicht zum Hausbrand, also zur Kirchenspaltung, gekommen.


Ist die Gegenwart vergleichbar mit der Vergangenheit?

Auch gegenwärtig erkennen viele ein gefährliches Feuer im Haus der katholischen Kirche, verursacht nicht allein durch den erschütternden Missbrauchsskandal. Von der Notwendigkeit einer strukturellen Reform überzeugt, haben deutsche Laien und Geistliche den Synodalen Weg beschritten, um etwa über das sakramentale Weiheamt, über Gewaltenteilung und Demokratie in ihrer Kirche zu debattieren. Der Vatikan und in Deutschland vor allem Bischöfe aus Süddeutschland sehen darin jedoch keinen Schritt zur Bewahrung, sondern die Aufforderung zur Zerstörung ihres Hauses. Droht erneut eine Kirchenspaltung? Sind reformbereite deutsche Katholiken die neuen Reformatoren? Und steht ihnen gegenüber ein Papsttum, das erneut bedrohliche Zentrifugalkräfte unterschätzt oder zu lange gewähren lässt?

Vieles lässt sich hier nicht massstabsgerecht vergleichen, manches und auch Gewichtiges jedoch schon. Dafür muss jedoch als Grundlage der erste Brand genauer und sachlich nüchtern in den Blick genommen werden:

Martin Luther wurde bekanntlich wegen seiner 95 Thesen zum Ablass der Häresie verdächtigt und beschuldigt. Er soll diese Thesen am 31.  Oktober 1517 an die Tür der Wittenberger Schlosskirche gehämmert haben. Sicher ist, dass er sie in den folgenden Monaten in kleineren Schriften und einem Ablass-Traktat vertieft hat. Im Kern besagten seine Thesen Folgendes: Die Erlösung von Sünden kann nur durch persönliche Reue, Busse und Gottes Gnade erfolgen, nicht aber durch eine materielle, finanzielle Leistung.
 

Es ging um viel Geld

Damit traf Luther einen wunden Punkt, denn Geld war damals tatsächlich das Problem. Der brandenburgische Markgraf Albrecht von Hohenzollern durfte nämlich in den Jahren 1514/1515 nur deshalb die Erzbistümer Mainz und Magdeburg sowie das Bistum Halberstadt in seiner Person vereinen, weil er bei der Kurie eine mit 10 000 Dukaten geradezu sündhaft teure Dispens erwarb.

Damit sah man über diese kirchenrechtlich problematische Ämterhäufung und sein zu geringes Alter hinweg. Zu dieser schon enormen Summe kamen weitere 14 000 Dukaten als ganz reguläre Gebühren für die Bestellung zum Erzbischof von Mainz und dann noch eine kleinere Zahlung für Kaiser Maximilian. Alles in allem würden diese Abgaben heute einem zweistelligen Millionenbetrag entsprechen.

Finanziert wurde Albrecht durch das Bankhaus der Fugger. Um seine gigantischen Schulden effektiv und schnell tilgen zu können, erhielt er jedoch 1515 von Papst Leo X. die Erlaubnis, über einen Zeitraum von acht Jahren den Vertrieb des Ablasses für den Wiederaufbau des römischen Petersdoms durchzuführen, und zwar für die Kirchenprovinzen Mainz und Magdeburg sowie die weltlichen Territorien Albrechts und seine brandenburgischen Verwandten. Die Erträge aus diesem Handel sollten zur Hälfte Rom, zur anderen aber Albrecht von Brandenburg, also faktisch den Fuggern, seinen Gläubigern, zukommen.

Durch Luther und seine theologischen Schriften fühlte sich Leo X. als Papst offenbar nicht bedroht.

Götz-Rüdiger Tewes
Zuwarten – allen Warnungen zum Trotz

Der Dominikaner Johannes Tetzel trat im Januar 1517 für die Verkündung des Petersablasses im Bereich der Magdeburger Erzdiözese in den Dienst Albrechts. Er wurde dafür zum Subkommissar ernannt und in dieser Funktion erlebt ihn auch Luther, der als junger Theologe an die Wittenberger Universität gekommen war. Luther vernahm, wie Tetzel verkündete, er habe solche Gewalt vom Papst erhalten, dass nun selbst einem Menschen, der die Jungfrau Maria geschwängert habe, vergeben werden könne, wenn er nur die gebührende Summe in den Ablass-Kasten lege. Tetzel prahlte damit, dass er mit Ablasshandel mehr Seelen erlöst habe als Petrus mit Predigten. Die Reaktion Luthers waren die 95 angesprochenen Thesen.

Umstritten ist in der Forschung bis heute, wie der römische Prozess gegen ihn zu Stande kam. Klar ist, dass Luther von Erzbischof Albrecht praktisch unmittelbar nach Publikation der Thesen in Rom denunziert wurde. Bereits ein halbes Jahre später im Juni 1518, eröffnete die Kurie einen Prozess gegen Luther wegen des Verdachts auf Häresie. Überprüft wurden die Ablassschriften Luthers hauptsächlich durch den päpstlichen Hoftheologen Silvester Prierias, der schnell zu dem Urteil kam, Luthers Auffassungen von der kirchlichen Autorität und vom Ablass seien irrig, falsch, vermessen oder gar häretisch. Prierias erstellte zudem ein theologisches Gutachten, das als Grundlage für eine Vorladung Luthers vor die Kurie diente. Der Luther-Prozess wurde dann aber erstaunlicherweise bis 1520 gleichsam auf Eis gelegt, trotz der eindringlichen Warnung von Prierias.

Leo X. zieht 1513 mit seinem Gefolge in Florenz ein. Wandbild von Giorgio Vasari im Palazzo Vecchio in Florenz (um 1555). Bild: Alamy / Granger Historical Picture Archive

Andere Probleme scheinen wichtiger

Warum nahm Leo X. diese Warnung nicht ernst? Nun: Zum einen war Giovanni de’ Medici kein Theologe. Und zum anderen war er eben ein Medici, dem es nach einem 18-jährigen existenzbedrohenden, traumatischen Exil seiner Familie um die Sicherung der Dynastie sowie um die Bewahrung der Macht über den Staat Florenz ging. Mit anderen Worten: Eine primär auf Frankreich und Italien ausgerichtete Familien-Politik war ihm wichtiger als ein spezielles theologisches Problem im Osten Deutschlands, der dem Vatikan zudem so gut wie unbekannt war. 

In der Anfangszeit der Reformation gab es für den Medici-Papst zwei andere Problemkreise, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchten: Da war zum einen die heftig umstrittene Eroberung des Herzogtums Urbino für den Papst-Neffen Lorenzo de’ Medici und zum anderen die Wahl des Nachfolgers von Kaiser Maximilian. Sie vor allem hatte unmittelbaren Einfluss auf die Haltung des Papstes gegenüber der Reformation.

Schon im Sommer 1517 hatte Kaiser Maximilian I. mit dem Versuch begonnen, seinen Enkel Karl, der bereits König von Spanien und Regent von Burgund war, noch zu seinen Lebzeiten zum römischen König wählen zu lassen, damit Karl später die Kaiserkrone sicher war. Dafür brauchte Maximilian aber den Papst. Leo X. lehnte sein Ansinnen jedoch kategorisch ab, denn der frankophile Medici-Papst hatte seit Beginn seines Pontifikates eine äusserst enge Allianz mit Frankreich geschmiedet. Zugleich fürchtete die Medici-Kurie nichts mehr als einen habsburgischen König von Spanien und Neapel im Süden, der gleichzeitig auch noch römischer König und Kaiser im Norden war und damit den Kirchenstaat und Florenz umklammert hätte.

Mit dem Tod Maximilians im Januar 1519 wurde diese Gefahr dennoch real. Nun war die Medici-Kurie zum Handeln gezwungen. Leo X. und sein Cousin forderten deshalb den französischen König mit Nachdruck auf, als neuer König des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und damit als Kaiser zu kandidieren. Da man jedoch ahnte, dass die deutschen Kurfürsten kaum mehrheitlich einen Ausländer wählen würden, hatte man sicherheitshalber bereits 1518 in Frankreich und Rom den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen, also Luthers Landesherrn, als Alternative ins Spiel gebracht. Eigentlich erstaunlich, denn immerhin agierte Friedrich der Weise offen als Beschützer Luthers, den man in Rom bereits als notorischen Häretiker bezeichnete. Aber durch Luther und seine theologischen Schriften fühlte sich Leo X. als Papst offenbar nicht bedroht.
 

Ein junger Theologe macht Druck

Von der Notwendigkeit entschiedenen Handelns überzeugt war jedoch weiterhin ein junger Theologe der Universität Ingolstadt. Er hiess Johannes Eck und hatte im Sommer 1519 mit Luther in Leipzig eine Disputation geführt, in der er diesen zu folgenschweren Aussagen gegen das päpstliche Amt und die Autorität der Konzilien verleitet hatte.

Seitdem stand für Eck fest, dass die Kurie unbedingt entschiedener und schneller gegen Luther vorgehen musste. Er selbst sah sich an die Spitze dieser Bewegung gestellt. Und so wurde Eck im März 1520 mit Hilfe der ihm eng verbundenen Fugger rasch zum entscheidenden Gegner Luthers in Rom, zur zentralen Figur im Lutherprozess. Eck wurde gefördert durch ein Netzwerk, das mit Kaiser Karl V. verbunden war. Karl war nämlich 1519 dank des Fugger-Reichtums doch noch zum Kaiser gekrönt worden. Dies zwang Leo X. aus machtpolitischen und pragmatischen Gründen in den letzten Monaten seines Pontifikats zu einem Anschluss an Spanien und die Habsburger.

Nun nahm der zwischenzeitlich eingeschlafene Prozess gegen Luther plötzlich wieder rasant Fahrt auf: Am 15. Juni 1520 unterschrieb Leo X. eine Bulle, die Luther den Bann androhte, und schon einen Monat später beförderte er Hieronymus Aleander und Johannes Eck zu Nuntien und Spezialinquisitoren. Sie sollten die Bulle veröffentlichen und vollziehen.

Unbeeindruckt veröffentlichte Luther in der zweiten Jahreshälfte jedoch drei seiner einflussreichsten reformatorischen Schriften. Auf sie folgte am 10.  Dezember die Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch Luther selbst und am 3. Januar 1521 der Kirchenbann durch Papst Leo X. Damit war Luther aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Kirchenspaltung nahm ihren Lauf.
 

Welche Bewegungen werden heute ausgelöst?

Eine neuerliche Kirchenspaltung, hervorgerufen durch den Synodalen Weg, hält vermutlich niemand ernsthaft für möglich. Aber solange der Papst nach Kirchenrecht heute noch mehr als damals ein absoluter, unfehlbarer Monarch ist, kann er eine wesentliche Demokratisierung und Gewaltenteilung gar nicht zulassen. Der Reform sind also in den gegenwärtigen Strukturen enge Grenzen gesetzt. Wie sich das auf die katholische Kirche im 21. Jahrhundert auswirkt und ob der Synodale Weg die Katholikinnen und Katholiken bei der Kirche hält, das wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Text: Götz-Rüdiger Tewes