Wir Gewohnheitstiere

Interview

Wir Gewohnheitstiere

Sie haben sich während Corona heimlich eingeschlichen: der Schoko-Riegel nach dem Zoom-Meeting und die belohnende Zigarette auf dem Balkon. Nur: Wie werden wir sie jetzt wieder los? Ein Gespräch mit Verhaltenstherapeut Gregor Harbauer.

Herr Harbauer, unsere Erfahrungen zeigen:Sein Verhalten zu ändern, ist schwierig. Warum eigentlich?

Gregor Harbauer: Wir Menschen sind bequem. Verhaltensänderungen sind mühsam und Kräfte raubend. Wir ändern unser Verhalten deshalb nicht einfach so zum Spass – dafür braucht es schon sehr viel Elan und Motivation.

Dann sollte es doch wenigstens einfach sein, schädliches Verhalten zu ändern. Wer will sich denn schon selber schaden? Da müsste Motivation vorhanden sein.

Auch wenn mein Kopf weiss, dass Rauchen schädlich ist, muss ich doch Energie aufwenden, um mein Verhalten zu ändern. Einfacher ist, nichts zu ändern und am Gewohnten festzuhalten. Wichtiger als die Frage nach schädlich oder unschädlich ist jene nach den Vor- und Nachteilen einer Handlung. Die meisten Raucherinnen und Raucher wissen, dass Rauchen ihrer Gesundheit schadet – und rauchen trotzdem weiter. Weil die Vorteile überwiegen: Rauchen entspannt und gibt ein angenehmes Wärmegefühl. In den Raucherpausen lassen sich zudem hervorragend Beziehungen pflegen. Es gibt viele Gründe fürs Beibehalten – und die Gefahr, dass ich später erkranken könnte, ist zu weit weg, um im Moment relevant zu sein.

Letztlich geht es also um zwei Waagschalen? 

Genau: Um mein Verhalten zu ändern, muss das Positive überwiegen. Am besten sehe ich die Wirkung meiner Handlung sofort und nicht erst in 20, 30 Jahren. 

Wenn ich mir mit dem Hammer auf den Finger schlage, ziehe ich ihn augenblicklich weg. Ich habe Schmerzen, erkenne, warum – und übergebe die Aufgabe in Zukunft vielleicht lieber jemandem, der’s kann.

Ein grosser Teil unseres Verhaltens sind Gewohnheiten. Warum sind wir denn solche Gewohnheitstiere, wenn uns das doch Flexibilität raubt?

Gewohnheiten gehören zum Menschsein dazu. Sie sind verlässlich und strukturieren unser Leben. Vor allem in unsicheren Zeiten geben sie uns ein Gefühl von Sicherheit und Berechenbarkeit. Ob das Tortenstück oder die Zigarette nach dem Essen, sie stimulieren das Belohnungszentrum im Gehirn, suggerieren Vertrautheit und Wohlbefinden. Damit wird das Verhalten verstärkt – das nächste Tortenstück ist garantiert.

Wir hätten gerne das Gefühl, dass wir unser Leben im Grossen und Ganzen durch bewusste Entscheidungen gestalten. Doch ein Grossteil unseres Alltags besteht aus ritualisierten Abläufen, die in einer Art Autopilot-Modus Ordnung ins Leben bringen und unser Gehirn entlasten.

Um mein Verhalten zu ändern, muss das Positive überwiegen

Gregor Harbauer

Wenn Verhaltensänderungen nicht nur Kopfsache sind, denen mit Disziplin beizukommen ist, sondern auch den Körper miteinbeziehen und dadurch oft scheitern: Sollten wir dann vielleicht unsere Schwäche nicht einfach als Teil von uns akzeptieren?

Radikale Akzeptanz ist sicher eine Möglichkeit. Das funktioniert allerdings nur so lange, bis ein Leidensdruck entsteht. Je grösser der Leidensdruck, desto höher die Motivation für eine Veränderung.

Dass ich mein Verhalten ändern will, suggeriert mir ja immer auch,  defizitär sein. Sonst müsste ich nicht an mir arbeiten.

Das kommt aufs Ziel an. Sich verändern heisst nicht unbedingt, nach einem höheren Ziel zu streben. Es kann auch heissen, das Ziel anzupassen oder auf der gleichen Ebene neu zu formulieren. Auch Reduktion kann ein Ziel sein. Bei einem Burnout geht es ja gerade nicht um höhere Ziele, sondern insbesondere darum, herauszufinden, was mich im Leben erfüllt ausser Leistung.

Wie geht man nun am besten vor, wenn man sein Verhalten ändern will?

Zu Beginn steht  die Motivation im Mittelpunkt: Man muss genau wissen, was man will. Was für eine Veränderung spricht, was dagegen. Und welches die Konsequenzen sind.

Ein Beispiel: Jemand will 10 Kilogramm Gewicht verlieren: Worin liegt die Motivation, der Treiber, der mich ans Ziel bringt? Warum soll ich überhaupt Gewicht verlieren? Welches sind die Konsequenzen, nicht nur bei mir, sondern auch in meinem Umfeld? So gilt es, in Gedankenspielen alles durchzudenken. Für diese Phase sollte man sich viel Zeit lassen, denn je besser ich mich kenne und weiss, was auf mich zukommt, desto schneller wird es mir gelingen, mein Ziel zu erreichen – denn ich nehme damit auch die Stolpersteine vorweg.

Und was folgt dann?

Ich entscheide mich definitiv für die Verhaltensänderung und beginne, klar und konkret die Umsetzung zu planen. Ich überlege mir, wie mein Ziel am besten zu erreichen ist, und teile den Weg dorthin in kleine Teilschritte auf.

Anschliessend beginne ich zu handeln. Um beim Beispiel Gewichtsverlust zu bleiben: Ich lese Ernährungsbücher oder entscheide mich vielleicht, eine Ernährungsberatung zur Unterstützung beizuziehen. Vielleicht schreibe ich mir Tagespläne, kaufe gezielt ein, verschenke alle Schokolade, die ich besitze. Wichtig ist auch, sich nicht etwas wegzunehmen, ohne eine Alternative anzubieten. Schokolade entspannt mich? Könnte ich mich vielleicht auch mit Musik entspannen?

Am Schluss bewerte ich, ob ich mein Ziel erreicht habe und ob die damit verbundenen Erwartungen eingetroffen sind. Falls ja, bin ich hoffentlich so richtig stolz auf mich.

Entstehen neue Gewohnheiten eigentlich wie ein Überschreibungsprozess: Sind sie einmal etabliert, bleiben sie auch?

Ja, so kann man das sehen. Verhaltensänderung heisst, ein Neuverhalten ersetzt das bisherige. Eine Verhaltensweise, der man schon über Jahre folgt, ist wie eine Autobahn. Man kennt die Strecke und fährt sie mit 120 km/h. Eine neue Verhaltensweise wäre ein Wegweiser rechts hinaus. Beim ersten Mal verpasst man ihn – beim zweiten Mal knapp auch noch. Man muss erst aktiv bremsen, herunterschalten und bewusst rechts rausfahren.  

Und das war’s dann schon mit der Verhaltensänderung?

Nein, dann fangen die Probleme erst an: Der neue Weg ist noch bewachsen und holprig. Ich weiss nicht, was mich erwartet. Die Risiken sind nicht unerheblich. Ich kann nun wieder zur Autobahn zurückkehren, weil sie mir vertraut ist. Gelingt es mir jedoch, auf der unbekannten Strecke zu bleiben, wird die neue Ausfahrt allmählich asphaltiert, das Unkraut wird weniger und wächst stattdessen auf der Autobahn von früher, die ich nicht mehr befahre. Die neue Strecke wird zur neuen Autobahn. Das bisherige Muster ist ersetzt durch ein neues.

Sie sprachen von Bewusstmachen, Abbremsen. Bedeutet dies, dass es in unserer schnelllebigen Zeit schwieriger ist, sein Verhalten zu ändern, als früher?

Ja, dem ist so. Unser Alltag ist nicht nur schneller, sondern auch komplexer geworden. Damit wird unser Verhalten von zahlreicheren Faktoren beeinflusst als früher. Die Gefahr, in unserem Hamsterrad zu bleiben, steigt. Umso wichtiger ist es, sich auf eine gewünschte Verhaltensänderung gut vorzubereiten, beharrlich zu sein und sich wo nötig begleiten zu lassen.

Text: Pia Stadler