Die eigene Geburt überleben

Reportage

Die eigene Geburt überleben

Pierre-Yves kann noch nicht davon erzählen, wie er seine Geburt überlebt hat. Dafür seine Eltern France und Thiébaut. Eine Geschichte von der Kostbarkeit des Lebens und seiner Verletzlichkeit.

Donnerstagmorgen. France liegt noch im Bett und spürt, dass etwas nicht stimmt. Sie ist in der 25. Woche schwanger. Bislang ist alles gut gegangen. Aber im Notfall des Kantonsspitals wird schnell klar: Sie muss sofort ins Unispital Zürich. Rettungswagen, Blaulicht – «wie im Film», erinnert sich France. Auf der Geburtenstation des Unispitals ist man spezialisiert auf die Betreuung sehr früh Geborener. Dort erklärt man France: Ein vorzeitiger Blasensprung ist passiert und dadurch sind Mutter und Kind in Gefahr, eine Infektion zu bekommen. Sechs Wochen lang wird France hier liegen müssen. In der 31. Woche – immer noch viel zu früh – wird ihr Kind dann mit einem Notkaiserschnitt entbunden. Und zu ihr wird man sagen: «Ihr Kind ist krank zur Welt gekommen.»

Heute ist Pierre-Yves 48 Tage alt. Wäre die Schwangerschaft lehrbuchmässig verlaufen, dann würde er erst in ungefähr drei Wochen zur Welt kommen. Pierre-Yves aber durfte vor fünf Tagen bereits die Neonatologie des Unispitals verlassen. Er ist jetzt zu Hause und die Familie endlich wieder vereint, nun zu viert. Die Freude ist gross, aber auch noch ein wenig vorsichtig. Paul-Andreas, mit zweieinhalb Jahren der ältere Sohn, klettert aufs Sofa, nimmt das Stillkissen und legt sich zu seiner Mutter in den Arm – genau so, wie Mama gerade vorhin noch seinen kleinen Bruder gehalten hat. Paul-Andreas geniesst die Nähe sichtlich. Minutenlang liegt er da, ganz ruhig. Bewegt er sich, dann so behutsam, als könne seine Mama bei einer falschen Bewegung gleich wieder weg sein.

Mama ist weg

An dem Donnerstag, an dem Mama mit dem kleinen Bruder im Bauch ins Spital musste, kam nur der Papa, um Paul-Andreas von der Kita abzuholen. «Es war eine Katastrophe für ihn», erinnert sich Thiébaut. Es half auch nichts, mit Mama via Facetime zu telefonieren. «Die ersten zwei Tage waren extrem schwer.» Plötzlich war alles anders. Mama war weg und Papa übernahm die Aufgaben zu Hause. Nachbarn und Freunde halfen. Die Grosseltern aus Frankreich waren schnell angereist. «Mit dem blauen Auto», erwähnt Thiébaut. Paul-Andreas hebt den Kopf und strahlt. Ja, ab dann wurde es einfacher. Thiébaut wollte für Paul-Andreas und für sich selbst vor allem den gewohnten Rhythmus aufrechterhalten. Für Thiébaut hiess das: «Funktionieren: aufstehen, essen, anziehen, in die Kita gehen, arbeiten gehen, zurück, essen …» Sechs Wochen können eine lange Zeit sein. Zweimal in der Woche gingen die beiden zu Besuch ins Spital und zwischendurch redeten sie viel miteinander: «Mama ist jetzt im Mamaspital. Sie muss Medikamente nehmen, aber sie kommt zurück. Und an Weihnachten wird es einen kleinen Bruder geben.»

Das Kind hat gelitten

Pierre-Yves, der Neugeborene, liegt in der Wiege und schläft jetzt ruhig. Er hat seinen Schoppen bekommen und das Trinken geht schon ganz gut. Ein Sechstel seines Körpergewichts soll er täglich trinken: das sind bei rund drei Kilogramm also fünf Deziliter. Pierre-Yves ist ein Frühgeborenes, aber er ist kein krankes Kind mehr. Er wirkt recht gross mit seinen geschätzt 50 Zentimetern. «Seit zwei Tagen bin ich verblüfft von ihm», sagt seine Mutter. «Er hat doch schon einiges gelitten. Trotzdem beschwert er sich nicht viel.» Natürlich gebe es Momente, wo er schreie, wenn er nicht perfekt gewickelt sei – und das sei auch gut so – er nehme es aber gelassener hin. «Ich finde ihn sehr mutig.» France blendet in die Erinnerung zurück, zu den sechs Wochen, die sie nach dem Blasensprung im Spital liegend und wartend verbracht hat. «Flitterwochen vor der Geburt» nennt sie diese Zeit. Weil sie ihrem Baby sehr nahegekommen sei und seine Persönlichkeit gespürt habe: eine mutige und sensible Persönlichkeit. Zu Hause und mit dem älteren Kind in unmittelbarer Nähe wäre das in der Weise nicht möglich gewesen, vielleicht auch nicht ohne den Blasensprung: «Aus Mangel an Fruchtwasser spürte ich die Kindsbewegungen viel intensiver, die Verbindung war wirklich hautnah.»

Flitterwochen vor der Geburt? Klingt das nicht etwas gar schön für eine Zeit, die langes Warten und oft bange Angst bedeutet? France ist dieses Bild selbst in den Sinn gekommen, während sie liegen musste und dabei oft zu beten begann. Zu diesem Bild inspiriert hat sie die Seelsorgerin. Sie kam während ihres Spitalaufenthalts zu Besuch. «Manchmal gelingt es, ein schwieriges Erlebnis neu zu umschreiben, anders zu füllen. Wir nennen das auch ‹reframen›», erklärt Margarete Garlichs, die seit 2003 reformierte Seelsorgerin im Bereich Frau und Kind am Unispital Zürich ist. «Tatsächlich habe ich Frau O. geraten, die Zeit zu nützen, um gut mit ihrem Kind in Kontakt zu kommen. Toll, dass sie dafür so ein schönes Bild gefunden hat!» Als Seelsorgerin besucht Margarete Garlichs Frauen im Wochenbett und begleitet sie, wenn sie das möchten. Was sie anbieten kann? «Einen Raum für Gefühle», und dazu gehöre auch das, was «unterschwellig schlummert», was vielleicht schwierig auszudrücken sei. Garlichs meint: «Formulieren kann auch Realisieren bedeuten.» Worte würden oft helfen, mit einer schweren Situation umzugehen. France hat das erlebt: «Du musst dann nicht mehr alleine damit zurecht- kommen.» Sie und ihr Mann wissen, wovon sie sprechen. Bevor Pierre-Yves zur Welt kam, haben sie ein Kind verloren. Und zuvor schon einmal, noch bevor Paul-Andreas geboren wurde.

Eine «soziale Geburt»

France berührt es ungemein, erlebt zu haben, dass «andere wollen, dass du bleibst». «Unglaublich viele» hätten für sie gebetet: Freunde in den USA, ihr Pfarrer und Gemeindemitglieder zu Hause. Auch medizinisch war der Einsatz gross: Vom Augenblick im Rettungswagen nach Zürich bis zu dem Moment sechs Wochen später, als Spezialistinnen und Spezialisten den Kleinen zur Welt geholt hätten – es seien so viele Menschen gewesen, die um sie und ihr Kind gekämpft hätten. «Zu anderen Zeiten und an einem anderen Ort wären wir beide wahrscheinlich nicht mehr am Leben», sagt France. Als die Sirenen zu hören waren und sie ins Unispital fuhren – «wie im Film» –, da hätte sie sich und ihr Kind fast aufgegeben. Sie kannte ja die schmerzliche Erfahrung, ein Kind zu verlieren. Und dennoch: «Ich glaube, man muss demütig sein und akzeptieren, dass manche Kinder nur ganz kurz bei uns sind.» France sieht auch etwas Grosses darin, jemanden in Liebe gehen zu lassen. «Die Erfahrung vom Tod ist im Leben eingebettet.» Dieser Glaube und dieses Vertrauen waren bei France durch die erste Geburt gewachsen. Paul-Andreas hatte sie auf natürliche Weise geboren, auch ohne Betäubung, welche die Schmerzen hemmt. «Diese Geburt war für mich die grösste und innigste körperliche und spirituelle Erfahrung. Sie hat in mir Türen geöffnet. Es war das schönste Gebet, das ich nur beten konnte.» Das Zur-Welt-Kommen von Pierre-Yves erlebte sie hingegen als «soziale Geburt» – weil sich viele Menschen handelnd und betend eingesetzt hätten: «Das Intime der Geburt war mir geraubt, aber das Kind zeigt mir, dass es nicht uns allein gehört. Es ist ein Teil der Menschheit und fest in die Gemeinschaft eingebunden.»

Jeder Tag vor der Geburt, der liegend und wartend vorüber ging, war ein Wunder für France und ein Gewinn für den Kleinen in ihrem Bauch. Und dann, an einem Montag gegen Abend, genauer am 11. Oktober, spürte France erneut, dass etwas nicht in Ordnung war. «Wir werden langsam krank», ging ihr durch den Kopf. Eine der Pflegefachfrauen erkannte den Ernst der Lage. Und wieder ging es schnell: Notkaiserschnitt. «Ich habe ihn nur zwei Mal schreien gehört – aber das war immerhin schon sehr schön», erinnert sich France. Ihr viel zu früh geborenes Kind sei sofort mitgenommen worden, die Ärzte von der Neonatologie hätten schon auf ihn gewartet. «Eine halbe Stunde später hat man ihn mir ganz kurz gezeigt und mir gesagt, ich bekäme Nachrichten von ihm in der Nacht.» France hat Verständnis dafür, dass dann in der Nacht keine Nachricht kam. «Es war schwierig, ihn zu stabilisieren. Sie haben um ihn gekämpft.» Für sie waren es «fürchterliche Stunden.» «Ich habe für ihn gebetet, dass er das aushält. Mir kam das Bild in den Sinn von der Mutter, die bei ihrem Sohn steht, auch wenn er sterben muss.» France weint jetzt. Die Nachricht, dass ihr Sohn, ihr Pierre-Yves, lebt, erhielt sie dann am Morgen.

Was die Medizin kann

«Pierre-Yves hatte keinen guten Start», erinnert sich Kathrin Houas. Die Pflegefachfrau auf der Neonatologie des Unispitals hatte den Kleinen zur Pflege übernommen, als er die Intensivstation bereits verlassen konnte. «Er war nach einem Amnioninfekt der Mutter geholt worden, hatte eine Sepsis und wir hatten ihn kurzzeitig intubiert.» Da Pierre-Yves am Anfang der 31. Schwangerschaftswoche zur Welt kam, gilt er als «sehr frühe Frühgeburt». Kathrin Houas meint aber: «Pierre-Yves hat es bald sehr gut gemacht, auch mit dem Trinken, deswegen kann er jetzt schon zu Hause sein.» Durch seine sehr frühe Geburt müsse er keineswegs langfristige Schäden davontragen, das weiss sie aus Erfahrung. Bis zum fünften Lebensjahr werden regelmässige Entwicklungskontrollen durchgeführt.

Thiébaut wusste aller Unsicherheit zum Trotz die ganze Zeit, «dass die beiden am besten Ort sein können, dass die besten Ärzte dabei sind – und dass es gut wird». Als er seinen Sohn zum ersten Mal gesehen habe – am Vormittag nach der Geburt –, sei sein erster Eindruck «überraschend positiv» gewesen. Natürlich habe er die Schläuche gesehen, an denen Pierre-Yves gehangen sei, und gespürt, wie sehr die Ärzte «auf die Sache fokussiert» gewesen seien, aber er dachte auch: «Ja, er sieht so aus wie ein Baby: zwei Arme, zwei Beine.»  Thiébaut lacht: «Ich war so auf der operationalen Ebene, dass mein erster Gedanke war: ‹Ich müsse der Krankenkasse sagen, dass das Kind geboren ist.› Blöd eigentlich, im Nachhinein betrachtet.» Dass ihm seine Frau nicht schon am Vorabend gesagt hatte, dass das Kind nun per Notkaiserschnitt geholt werde, findet er eine richtige Entscheidung. «Ich beruhige immer schnell: Das wird schon gut. – Ich weiss nicht, ob das meiner Frau in dieser Situation geholfen hätte.» France hatte ihre eigenen Gründe: «Ich wollte das meinem Mann ersparen.» Warum? «Ich glaube, dass wir als Frauen in dieser Situation anders dastehen. Schon eine normale Geburt sind lange Stunden des Leidens. Es ist eine Begegnung der Extreme: Der Tod ist bei der Geburt nie weit weg.»

Reden gegen Tabus

France und Thiébaut wünschten sich, schon vor diesen Grenzerfahrungen mehr gewusst zu haben: wie andere mit einer Fehlgeburt umgegangen sind. Was es heisst, einen Kaiserschnitt zu erhalten, ohne sich dafür entschieden zu haben. Wie hat France den Notkaiserschnitt erlebt? «Es ist, als hätte ich meine Aufgabe nicht ganz erfüllt. Das Kind wird zwar gerettet, aber es ist keine komplette Erfahrung. Es ist schade, dass man über diesen Mangel, über dieses Gefühl des Nicht-Komplett-Seins nicht redet.» Ein anderes Thema ist das der Machbarkeit, das France als sehr belastend erlebt hat: Wie weit sollten sie gehen? Was tut Mutter und Kind noch gut, und wo sollten die medizinischen Eingriffe stoppen? «Gott sei Dank konnte ich darüber mit den Ärztinnen und den Pflegenden offen reden.»

Paul-Andreas liegt schon lange nicht mehr bei seiner Mutter, sondern spielt jetzt geschäftig. Immer wieder läuft er zur Wiege. Er ist gerade gross genug, um über ihren Rand hinein auf seinen Bruder zu schauen. Weiterhin sagt er nichts, er schaut nur. Als müsse er nochmals sichergehen, dass da wirklich ein Bruder angekommen ist. France schaut ihren Grossen aufmerksam an und Thiébaut sagt: «Seit sein Bruder zu Hause ist, fragt er uns ständig, ob jetzt endlich Weihnachten sei.»

Text: Fotos: Christoph Wider