Memoiren in Versionen

Leben in Beziehung

Memoiren in Versionen

Wenn ein Neffe mich dazu auffordert, die Familiengeschichte niederzuschreiben, so nervt mich dies vorerst, wird aber nach sachlicher Prüfung als weiser Tritt in den Hintern des trägen Onkels gewertet. 

Also suchte ich im Laufe des zu Ende gehenden Jahres Unterlagen zusammen betreffend meine Vorfahren, die Bauern-familie Bächi aus dem Zürcher Unterland und den aus der Tschechoslowakei eingewanderten Schuhmacher Hospodarsky aus Schönenwerd.

Das Wühlen in der Vergangenheit machte mehr und mehr Freude und führte dazu, dass ich nicht nur die Herkunft meiner Grosseltern besser zu verstehen begann, sondern auch damit anfing, Erinnerungen aus meinem eigenen Leben zu notieren. 

Völlig planlos ging ich an das Memoirenschreiben heran, schrieb einfach in Kapiteln nieder, was mir gerade als erinnerungswürdig in den Sinn kam. Tagebücher von unseren vielen Reisen zog ich da und dort zu Rat, auch mein Dienstbüchlein, um einen Teil meines Lebenslaufes in Erinnerung zu rufen. In den 35 Jahren als Inhaber und Chef in zweiter Generation unseres Familienunternehmens gab ich jährlich ein- bis zweimal eine Firmenzeitung heraus mit viel Eigenleistung von mir selber. Zu meiner grossen Freude wird diese Tradition auch in der dritten Führungsgeneration weiter gepflegt. Die Firmenzeitungen, säuberlich archiviert, dienen mir jetzt als grossartige Gedächtnisstütze. Doch den Hauptschatz an Erinnerungen muss ich im eigenen Gedächtnis suchen. 

Wie gross war da die Enttäuschung, als ich feststellte, dass ich mich offenbar auf das eigene Erinnern nicht verlassen kann. Denn fragte ich meine Frau danach, was sie noch wisse von diesem oder jenem gemeinsam Erlebten, stellte ich sehr betrübt fest, dass ihre Version eines Ereignisses sich oft bei Weitem nicht mit der meinigen deckte. Das war nun alles andere als förderlich für meinen Schreibdrang, ärgerte und kränkte mich zutiefst und führte zu einem totalen Schreibstau. Meine seelische Verfassung war im Sinkflug und hätte wohl in tiefer Finsternis geendet, hätte mir nicht ein lieber Freund den Schlüssel zum unbesorgten Memoirenschreiben in die tippenden Finger gegeben. Und das kam so:

Auf einer USA-Reise besuchte besagter Freund ein ihm bekanntes Ehepaar. Der Herr des Hauses erzählte von früheren Zeiten, wurde aber ständig von seiner Frau unterbrochen und korrigiert. Da verlor der an sich sanfte Herr die Geduld und sehr laut und unsanft stellte er seiner Frau die Frage: «Who wants to know the truth?!» (Wer bitte interessiert sich für die Wahrheit?) So schreibe ich jetzt getrost drauflos im Wissen, dass es hinten und vorn niemanden interessiert, ob meine Erinnerungen auch den Tatsachen entsprechen. Hauptsache, ich selber glaube daran.

Text: Hans Jörg Schibli