Mit offenem Blick

glauben heute

Mit offenem Blick

An Weihnachten feiern wir den vorbehaltlosen Blick Gottes, der uns durch das Jesuskind trifft, einlädt und annimmt.

Neugeborene sind ganz schön anstrengend und halten frischgebackene Eltern Tag und Nacht auf Trab. Was mich in der ersten Babyphase unserer Kinder aber immer berührt und für vieles entschädigt hat, war der unverwandte, vorbehaltlos offene Blick dieser Winzlinge. Sie fingen meinen Blick ein und liessen ihn nicht mehr los. Staunend, wie mir schien, urteilsfrei (woher auch sollten sie Kategorien für ein Urteil haben), voller Vertrauen. Mit diesem Blick weckten sie ungeahnte Kräfte in mir. Ich wollte alles tun, um sie zu beschützen und um ihnen eine Umgebung zu bereiten, in der sie den Zauber des neuen Lebens – den ich in ihrem Sein wahrnahm – nicht ganz und gar verlieren. 

Wie mag es Maria und Josef, den Hirten und den Königen gegangen sein, als sie das Jesuskind sahen? Was hat wohl der Blick dieses Neugeborenen in ihnen geweckt? Vielleicht ging in ihnen eine Ahnung auf: Schaut Gott uns so an? Voll Vertrauen und urteilsfrei, wer immer wir sind, was immer wir tun und können. Wie nahe der Blick von Neugeborenen dem Geheimnis des Lebens ist, durfte ich bei der Geburt jedes unserer Kinder erfahren. Was ich nicht wusste: Auch auf dem letzten Lebensabschnitt nähert sich der Blick von alten Menschen wieder diesem Geheimnis. Mein vor Kurzem im hohen Alter verstorbener Vater nannte es «Mysterium». Und dieses Geheimnis wurde  zu einem seiner Lebensgrundsätze in den letzten Monaten. In einem seiner immer spärlicher werdenden Mails schrieb er, er wolle «aufmerksam sein auf das Mysterium, das unergründliche Geheimnis, das hinter allem und über allem steckt». Der intellektuelle, immer wissenshungrige und alles reflektierende Mann konnte am Ende seines Lebens lange schweigend auf dem Balkon sitzen, um plötzlich zu sagen: «Siehst du, wie blau der Himmel ist? Und wie sich die weisse Hausmauer davon abhebt?» Genauso konnte er einen Spatz vor dem Spitalfenster bewundern oder den Fluss der Autos an einer Kreuzung  bestaunen. Sein Blick war offen für jedes Detail, das wir kaum mehr wahrnehmen, sah die Schönheit und das Wunderbare im ganz Alltäglichen – und fühlte sich dadurch beschenkt. So überraschte er mich eines Morgens mit einer Erkenntnis, die ihm in der Nacht gekommen sei: «Die wahre Vollkommenheit liegt in der Präsenz.» Und er erklärte: «Wenn man alt ist, kann man nicht mehr viel tun, nicht mal mehr sich selber anziehen, kaum einen Fuss vor den anderen setzen, und man vergisst eine ganze Menge. Aber das ist gar nicht entscheidend. Die Vollkommenheit liegt im Sein, im Da-Sein.» 

Auch dieses Jahr werden Tannenbaum, Kerzen, Geschenke, Weihnachtsguetzli, Festessen und vor allem das gemeinsame Feiern zu Weihnachten gehören. Aber jenseits von all dem begleitet mich diese Einfachheit des Seins, die mein Vater mir am Schluss seines Lebens vorgelebt hat. Auch mitten im Entscheiden, Planen und Handeln, das von mir noch gefragt ist, kann ich mich mit dem «Mysterium» verbinden, mit diesem Blick Gottes, der mich vorbehaltlos, ohne Urteil und voller Vertrauen anschaut.

Text: Beatrix Ledergerber