Zwischen den Familien

Leben in Beziehung

Zwischen den Familien

Ich mag Weihnachten sehr. Doch den Weg zwischen den Traditionen unserer beiden Herkunftsfamilien zu finden, war auch dieses Jahr wieder ein Spiessrutenlauf. 

Manchmal sehne ich mich daher nach der Zeit, als ich ein Kind war. Meine Mutter besorgte Geschenke und den Haushalt. Das Fondue chinoise war vorbereitet. Der Christbaum wurde am Vormittag von uns Kindern geschmückt. Und wir warteten am Heiligabend nach dem Mittagsschläfchen der Eltern nur darauf, zum Weihnachtsgottesdienst zu fahren. Der Christbaumschmuck glänzte, wenn wir nach dem Klingeln des Glöckleins ins Wohnzimmer durften. Herrliches Kribbeln im Bauch inklusive! Und die Geschenke? Gar nicht so wichtig. Einmal hatte meine Mutter viele von ihnen so gut im Haus versteckt (darunter ein grosser, hölzerner Notenständer!), dass sie erst im Februar wieder auftauchten. Und die versteckten Weihnachtssüssigkeiten fand meine Schwester in der grossen Kühlbox, die sie im Juli für die Sommerferien aus dem Keller holte. 

Und nun? Bin ich erwachsen, habe selbst Kinder, die eigene Herkunftsfamilie und die «andere» Familie, die meines Mannes, mit eigenen Traditionen für das Weihnachtsfest, nicht nur unter dem Baum, sondern auch auf dem Tisch. 

Der Familien-Gottesdienst am Heiligabend – ist für die andere Familie diskutabel, natürlich nicht für mich! Und dann sitzt die Schwiegermutter mit säuerlichem Gesicht im Kindergottesdienst an Heiligabend, obwohl die Enkelinnen beim Krippenspiel mitmachen. Für mich war es dadurch halb so schön. 

Die Geschenke – in der «anderen» Familie werden viele «Kleinigkeiten» geschenkt, vor denen ich wirklich Angst habe: Römertopf (für mich, hatte mir bisher nicht gefehlt), Bücher für meinen Mann (der nie liest), Nussknacker oder bemalter Porzellan-Christbaum-Schmuck, von dem es jedes Jahr ein Teil gibt. So richtig schön fand ich diesen Schmuck noch nie. Jedes Jahr kämpfe ich, ob ich etwas sage. Bisher habe ich dies nicht getan. Manchmal wäre mir kein Geschenk lieber. Für meine Undankbarkeit und Unoffenheit schäme ich mich ein bisschen. 

Am Heiligabend gibt es Kartoffelsalat und Schnitzel. Komische Menüwahl, nicht mit mir!, dachte ich immer, bin aber inzwischen eingeknickt und verzichte Jahr für Jahr auf mein geliebtes Fondue chinoise. Einigkeit auf dem Tisch herrscht zum Glück am ersten Weihnachtstag: Eine Gans mit Rotkraut und Klössen muss dann sein. 

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich mag und schätze die «andere» Familie sehr, aber die Kompromisse, die sich aufdrängen, fallen mir manchmal schwer: Die vielen Absprachen, das Einkaufen, die mühsam bewahrte Haltung, wenn es doch wieder nicht nach meiner Nase läuft, weil ja niemand Streit will an Weihnachten. Und dennoch: Ich mag Weihnachten – auch 2022. 

Text: Kerstin Lenz