Der Andere könnte Recht haben

 Zusammen unterwegs? – Synodalität (Beitrag 1/6)

Der Andere könnte Recht haben

«Die kürzeste Version von Synodalität ist: Der Andere könnte Recht haben!» – diesen schönen Satz habe ich auf der Homepage des Bistums Trier gelesen. 

Wenn er mich in meinen Gesprächen als Seelsorgerin leitet, werde ich einen Weg zum Gegenüber finden. Dann können wir ein Stück des (Glaubens-)Weges gemeinsam gehen und so alte Traditionen in unsere Gegenwart übersetzen. Ansonsten muss ich zugeben: Ich zerbreche mir seit Tagen den Kopf darüber, was ich zur Synodalität schreiben könnte, zu dieser Frage, wie wir gemeinsam unsere Traditionen weiterleben wollen.

Bereits der Arbeitstitel enthält ein Fremdwort, das mich ins Grübeln bringt. «Synodalität» – was bedeutet dieses sperrige Wort in meinem Alltag? Natürlich weiss ich, dass es in der langen Geschichte der katholischen Kirche immer wieder Synoden gab. Meistens war ein theologischer Streit der Auslöser dazu. Auch in jüngster Zeit hat Papst Franziskus zum synodalen Weg eingeladen. Dazu wurden auch bei uns in der Pfarrei Gespräche angeboten. Ich habe daran teilgenommen, es wurde ein spannender Austausch mit lieben Menschen. Aber ob sich daraus etwas weiterentwickeln wird? Wir waren alle skeptisch. Ein Gewinn aus diesem Gespräch hat aber Bestand: Der Austausch miteinander und das Aufeinanderhören ist der erste Schritt und der beste Weg zu meinem Nächsten. Mit diesem Gedanken bin ich in meinem Alltag angekommen. 

Als Spital- und Heimseelsorgerin ist es meine Aufgabe, mit verschiedensten Menschen in Kontakt zu kommen, zu hören, wo sie der Schuh drückt, und zu staunen über ihre Offenheit, gerade auch in Glaubensfragen. Oft erlebe ich zwar zuerst Ablehnung: «Mit der Kirche habe ich nichts mehr am Hut» oder: «Als Kind musste ich so oft zur Kirche, dass es fürs ganze Leben reicht.» Wenn ich aber geduldig zuhöre, auch schwierige Erlebnisse mit der Kirche benannt werden dürfen, kommt oft hinter der Enttäuschung ein tiefer Glaube zum Vorschein: «Wissen Sie, das Gebet ist mir wichtig» oder «Ich mache das lieber mit dem Herrgott direkt aus» – das sind für mich Hoffnungssätze, an die ich gerne anknüpfe. Da kann ich der Tradition unseres Glaubens in unserer Zeit einen Platz geben. 

Schon die Psalmen in der Bibel zeugen ja von diesem persönlichen Ringen mit Gott. Klage, Bitte, Lob und Trauer werden oft im gleichen Psalm zur Sprache gebracht. So bete ich mit den Menschen, und wir bringen ihre Klage, ihre Bitten und ihre Freude ins Wort, so, wie uns «der Schnabel gewachsen ist». Erstaunlich: Im persönlichen Gebet verstehen wir einander meist unabhängig von unserer jeweiligen Glaubensbiografie. Aber auch die Gespräche können fruchtbar sein, in denen mein Gegenüber ganz andere Glaubens- und Kirchenerfahrungen äussert als ich. Weil wir um gegenseitiges Verständnis ringen, wenn wir uns echt und ehrlich austauschen. Und: Vielleicht hat der Andere ja sogar Recht!

Text: Claudia Gabriel, Seelsorgerin am Kantonsspital Winterthur und im Alterszentrum Oberi