«Unsere Gesellschaft zersplittert»

Interview

«Unsere Gesellschaft zersplittert»

Nach 16 Jahren als Direktor der Caritas Zürich verabschiedet sich der Theologe Max Elmiger Mitte 2022 in den Ruhestand. «Armut ist nicht naturgegeben, sondern ein strukturelles Problem», ist er überzeugt.

Herr Elmiger, die diesjährige Caritas-Woche wird für Sie die letzte als Direktor der Caritas Zürich sein. Wie fühlt sich das an?

Es fühlt sich gut an – es waren tolle Jahre, in denen ich viel gestalten und erreichen konnte. Ich empfinde es noch immer als Privileg, eine Arbeit zu machen, die so sinnstiftend ist. Aber meine Aufgaben haben mich auch stark gefordert – es war kein Sonntagsspaziergang. 

An Ihrem ersten Arbeitstag 2005 fand das Armutsforum statt, die Caritas-Jahrestagung. Sie haben diesem Format, das Antworten auf drängende soziale Fragen sucht, Ihren Stempel aufgedrückt.

Mich gleich am Armutsforum erstmals präsentieren zu können, war der ideale Start in meine Caritas-Laufbahn. Aus dem ursprünglich ganztägigen Seminar mit Workshops und der Verleihung eines Caritas-Preises ist ein schlanker, fokussierter Anlass geworden, bei dem ein Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Dieses Fenster in die Fachwelt hat sich sehr bewährt. Das Armutsforum zurückzulassen, macht mich schon ein wenig wehmütig.

Caritas Zürich erfinde sich als Hilfswerk immer wieder neu und bleibe deshalb gleichbleibend jung, haben Sie einmal geschrieben. Was hat sich in den 16 Jahren unter Ihrer Leitung verändert?

Ein Hilfswerk, das quasi in der Nachbarschaft wirkt, muss sich ungefähr alle fünf Jahre neu ausrichten, um mit dem gesellschaftlichen Wandel mitzuhalten. 

Als ich zu Caritas Zürich kam, gab es einen Nachholbedarf an Professionalisierung – sei es im Auftritt, aber auch was die Geschäftsstandards betraf. Wir hatten damals fast schon einen Minderwertigkeitskomplex, weil wir uns stark mit der Privatwirtschaft messen mussten. Heute gehören diese Standards einfach dazu, vom Qualitätsmanagement bis zum Auftritt in der Öffentlichkeit. Dieser Prozess war nicht leicht, weil er sich mit dem Verständnis von Kirche reibt. Deshalb kann die Kirche mit Hilfswerken auch nicht so gut umgehen. 

Weshalb das denn? 

In der Kirche geht es um uneigennützige Hilfe, die bescheiden auftreten will. Als Hilfswerk aber leitet uns der Grundsatz «Tue Gutes und sprich darüber!» Wir müssen reden, denn es ist für viele nicht offensichtlich, dass es auch im reichsten Kanton der Schweiz Armut gibt. Wir müssen auch reden, um unsere Projekte für die Armutsbetroffenen finanzieren zu können. In den ersten zwei Jahren meiner Amtszeit wurden wir mit grossem Misstrauen von Kirchenseite konfrontiert.

Wie stehen Caritas und Kirche heute zueinander?

Wir haben gelernt, auf Augenhöhe zusammen zu leben. Auch die Kirche ist sich inzwischen bewusst, dass Kommunikation nach aussen aktiv gestaltet werden muss. Auch sie muss erzählen, was sie Gutes tut – das ist nicht unchristlich, sondern hilft, ein Verständnis zu wecken für ihre wertvolle Arbeit. Die Caritas ihrerseits muss nicht mehr mit Hochglanz-Auftritten betonen, was sie alles leistet. Die Bevölkerung und die Kirche wissen es inzwischen.

Erhält die Caritas nicht auch deshalb mehr Spenden, weil sie nicht auf den ersten Blick als Teil der Kirche erkannt wird?

Das sehe ich nicht so. Wir sind eine eigenständige katholische Organisation. Ein Verein, dessen Leitlinien von einem Vorstand und nicht vom Bischof vorgegeben werden. Dass Caritas als «neutrale» Marke wahrgenommen wird, mag beim Fundraising gewisse Vorteile haben. Mit unserem konfessionell neutralen Auftritt können wir nicht nur Brücken bauen in alle Gesellschaftsbereiche. Wir drücken damit auch das Credo von Caritas aus: Wir bringen uneingeschränkte Hilfe zu Menschen in Not, unabhängig von Religion oder Herkunft. Aber wir verstecken den kirchlichen Bezug keineswegs. 

Das Schönste an meiner Arbeit war das Networking: Ich war der Aussenminister, der die Beziehungen pflegt, und gleichzeitig der Innenminister, der die Mitarbeitenden wertschätzt.

Max Elmiger
Wie haben sich die sozialen Themen in den letzten 16 Jahren gewandelt?

Es haben sich zwei Brennpunkte herausgebildet. Seit 2015 haben sich die Fragen rund um Flucht, Migration und Asyl nochmals zugespitzt. Als Auftrag der Synode haben wir inzwischen eine Fachstelle für Geflüchtete eingerichtet, um auf die soziale Herausforderung gezielt reagieren zu können.

Viel stärker als früher ist heute der Brennpunkt Working Poor präsent. Wer hätte vor 15 Jahren gewusst, was Working Poor bedeutet? Heute sind sie präsent: Menschen, die arbeiten und trotzdem an der Schwelle zur Sozialhilfe stehen. Dieses Thema fordert uns sehr stark. Wie finden sie günstige Wohnsituationen? Wie lässt sich die Krankenkasse bezahlen? Es besteht viel Handlungsbedarf. 

Wo orten Sie die aktuell brennendsten Fragen?

Isolation, Einsamkeit, Vereinzelung. Unsere Gesellschaft zersplittert sich. Nehmen wir aktuell Meinungsgruppen wie die Corona-Gegner. Sie sind in sich so heterogen, dass sich ganz verschiedene Welten darin finden: von den Anthroposophen bis zu Coronaleugnern. Das macht uns sehr zu schaffen. Während wir früher verschiedene Segmente der Gesellschaft schnell erkennen und gezielt für sie arbeiten konnten, zerfällt jetzt die Gesellschaft in immer kleinere Blasen, die kaum mehr fassbar sind.

Hat sich im Kernthema der Caritas etwas verändert? 

Armut kann jeden treffen, unabhängig von Herkunft, Bildung, Status. Alles läuft rund, dann kommt eine Krise, vielleicht Drogen, der Verlust einer Beziehung, der Verlust des Jobs, dafür folgen Obdachlosigkeit und das Caritas-Hospiz. Diese Entwicklung macht unsere Arbeit schwierig, denn wir können nicht präventiv mit allen Gesellschaftsschichten arbeiten.

Auf welche Projekte sind Sie besonders stolz?

Ich bin auf meine kompetenten, engagierten Mitarbeitenden stolz – nicht auf Projekte! Was die Projekte angeht, haben wir in den letzten Jahren vorwiegend Bestehendes weiterentwickelt – in vielen Fällen mit einem Mentoring-Programm. Freiwillige begleiten zum Beispiel bei der Wohnungs- oder bei der Lehrstellensuche. Die Mentoring-Methode stösst auf grossen Anklang, die Wirkung ist sehr hoch. Sie benötigt jedoch eine sorgfältige Auswahl, Ausbildung und Begleitung der Mentorinnen und Mentoren.

Welches waren die schwierigen Momente?

Das Schwierigste ist die Abgrenzung: Dort, wo wir keine Hilfe bieten können, weil uns die Kompetenzen oder Mittel fehlen oder weil es dafür bessere Anbieter gibt. Bei Corona hat sich das stark gezeigt: Nichts machen zu können, das war schwieriger auszuhalten, als irgendetwas zu tun. Immer wieder musste ich sagen: Nein, da können wir nichts tun, das ist nicht unser Thema. Es ist auch schwierig, mit verschiedenen Erwartungen umzugehen. Aktiv zu werden, bringt nur dann etwas, wenn wir mit unseren Kompetenzen etwas bewirken können. Und wenn wir die Ressourcen haben, das auch nachhaltig zu tun. 

Die Caritas muss also auch ihre eigenen Grenzen erkennen?

Leider ja. In unseren Beratungen merken wir beispielsweise, dass während der Pandemie die psychischen Belastungen zugenommen haben. Das gleiche Phänomen stellen wir auch im Caritas-Hospiz fest. Das überschreitet unsere Möglichkeiten. Ich muss ja auch meine Mitarbeitenden schützen. Die gute Nachricht, auch in der Pandemie: Im Kanton Zürich hat das Zusammenspiel von privater und öffentlicher Hilfe und spontan entstehenden Initiativen Beeindruckendes geleistet und sehr gut funktioniert. 

Obwohl Armut und Prekarität die zentralen Themen der Caritas sind, hat sich die Lage nicht verbessert. Ist das nicht frustrierend?

Die Armut ist zumindest nicht schlimmer geworden. Meine Mitarbeitenden müssen aushalten, dass das Problem der Armut nicht aus der Welt geschafft werden kann. Das kann natürlich frustrieren. Zum Glück gibt es aber immer wieder Menschen, die es mit unserer Unterstützung aus der Armutsspirale schaffen. Wir leben von den positiven Erlebnissen, die wir feiern. Aber wir können nicht für alle Menschen eine Lösung finden.

Nach der Caritas-Woche bleiben Ihnen noch vier Monate bis zur Pensionierung. Wie werden Sie diese Zeit gestalten? 

Mit etwas Verspätung, aber gerade rechtzeitig, machen wir eine Strategieentwicklung: Was sollte unbedingt weitergehen, was können wir ausbauen – was funktioniert gut, ist aber nicht unbedingt nötig? Dann gilt es, meinem Nachfolger alles zu übergeben, insbesondere mein kirchliches Beziehungsnetz. «Aussenminister» zu sein, war übrigens die spannendste Aufgabe in all den Jahren … 

Motiviert Sie bei Ihrer Arbeit der Glaube?

Als spirituell-religiöser Mensch hilft mir mein Gottvertrauen enorm, meine Grenzen anzuerkennen. Es macht mich bescheiden und entlastet. Das ist ein wertvolles Gefühl. Ich bin ein Mosaiksteinchen im Gesamtgefüge, und solange ich es zum Leuchten bringen kann, reicht das vollends. Darin habe ich die Kirche stets als sehr unterstützend erfahren.

Worauf freuen Sie sich nach Ihrer Pensionierung?

Meine Frau und ich werden gleichzeitig pensioniert. Wir freuen uns, unserer Verwandtschaft, die auf der ganzen Welt verstreut ist, längere Besuche abstatten zu können.

Wie sehen Sie die Zukunft der Hilfswerke?

Hilfswerke wird es immer brauchen. Aber sie werden es nicht einfach haben. Wie die Kirche leben auch sie von der Freiwilligenarbeit. Bis vor Kurzem war Freiwilligenarbeit sogar ihr besonderer Bereich. Inzwischen bieten immer mehr Firmen und Organisationen Freiwilligeneinsätze an. Es wird für die Hilfswerke eine grosse Herausforderung sein, weiterhin für Einsätze zu motivieren.

Text: Pia Stadler