Aktives Vergessen

Narrenschiff

Aktives Vergessen

Das Internet vergisst nicht … heisst es. Aber die User halten tapfer dagegen. Sie haben in einem evolutiven Kraftakt neue Strategien zum Vergessen entwickelt.

Strategie «Spatzenhirn» hat bei mindestens einem Präsidenten der USA schon mal wunderbar funktioniert: Behaupte steif und fest, etwas nie geschrieben oder gesagt zu haben. Egal wie oft dein Tweet geteilt wurde, wie eindeutig deine Stimme zu erkennen ist und wie leibhaftig du im Filmclip erscheinst – deine Antwort kommt in jedem erdenklichen Fall knapp, präzise, standfest: Das habe ich nicht geschrieben, nicht gesagt, nicht getan. Entscheidend für den Erfolg dieser Strategie: Keine weiteren Erklärungen! Jedes zusätzliche Wort wirkt wie eine Verteidigung. Aber da gibt es nichts zu verteidigen. Denn du hast es nicht geschrieben, nicht gesagt, nicht getan. Basta!

Strategie «Schattenboxen» ist flexibler: Du hast es nicht so gemeint. Damit sind alle anderen die Dummen. Sie haben dich falsch verstanden. Haben deine Worte aus dem Zusammenhang gerissen. Verstehen den Subtext nicht. Kein Sinn für Ironie, deshalb können sie einfach nicht verstehen, dass «Trottel» als neckische Liebeserklärung gemeint ist.

Strategie «Gegenangriff» geht so: Du verlierst kein einziges Wort über deine eigenen Entgleisungen. Schliesslich haben die anderen noch viel mehr … viel länger … viel häufiger  … viel Schlimmeres getan.

Strategie «Misthaufen» ist zwar unappetitlich, aber in digitalen Zeiten extrem effektiv: Wenn du unbedacht etwas Widerliches ausgekotzt hast, dann überschütte den Mist augenblicklich mit ganz, ganz viel bedeutungslosem Gelaber über dein Hobby. Der Algorithmus wird so zu deinem Verbündeten, weil du urplötzlich für jede Suchmaschine nur noch aus Hobby bestehst. So lassen sich selbst schamloseste Lügen trefflich unter den Müll kehren.

Und schliesslich Strategie «Tüpflischisser»: Du verwickelst deine Kritiker in Wortklaubereien. «Ich habe nicht gesagt: ‹Berset ist ein Diktator!› – Ich habe gesagt: ‹Berset benimmt sich wie ein Diktator!›» Deine Gegner werden sogleich von dir ablassen, weil sie kapieren, dass die eine Aussage sich fundamental von der anderen unterscheidet. Das hat schon in der Pubertät bei Streitigkeiten mit den Eltern super funktioniert, weshalb also nicht in diesem Stil weitermachen. Und wenn doch Widerspruch kommt, schiebst du nach, dass deine Aussage nicht mit Brief und Siegel übermittelt wurde, also ganz und gar nicht offiziell sei, sozusagen nicht existent.

Jesus allerdings, Jesus ist wieder einmal gar nicht hilfreich, wenn es mit unseren Ausflüchten ernst gilt. In seiner Bergpredigt rät er, das Schwören ganz sein zu lassen, und sagt dann einen seiner berüchtigt weltfremden Sätze: «Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen.»

Text: Thomas Binotto