Worauf warten wir noch!

Essay

Worauf warten wir noch!

Dieser Beitrag wurde bei uns 2010 erstmals veröffentlicht. Er zeigt: Das Versagen der Kirche bezüglich sexuellem Missbrauch und die Herausforderungen für die Zukunft waren schon vor zwölf Jahren klar.

Die Fälle von sexuellem Missbrauch, die in Deutschland und der Schweiz aufgedeckt werden, fordern neben einer offenen Debatte und konkreten Massnahmen auch grundsätzliche Überlegungen zum Zustand der katholischen Kirche.

Die Erinnerung an all die Krisen, welche die katholische Kirche in ihren bald 2000 Jahren bereits überstanden hat, ist sehr gefährlich, weil sie dazu verleiten kann, sich jetzt selbstgerecht zurückzulehnen und auf bessere Zeiten zu warten, auf die man ein historisch verbrieftes Anrecht zu haben glaubt. Es stimmt zwar: Die Kirche hat schon manche Krise überwunden. Aber das ist ihr noch nie durch blosses Aussitzen gelungen, sondern immer durch aktive Reaktion, durch Selbstbesinnung, Selbstkritik und überzeugendes Handeln. Wo jedoch nur zugewartet wird, da können auch Kolosse fallen.

Das Eingestehen der Krise

Wo gilt es also nun anzupacken? Zunächst einmal müssen wir Katholiken uns eingestehen, dass unsere Kirche in einer Krise steckt, die sich nicht innerhalb von wenigen Wochen managen lässt. Sexueller Missbrauch ist nur eine – allerdings eine besonders hässliche – Fassette dieser Krise, die in ihrem Kern schon lange wuchert und sich allmählich zu einer fundamentalen Glaubwürdigkeitskrise ausgewachsen hat. Selbst unter praktizierenden Katholiken würde die Umfrage nach der Glaubwürdigkeit ihrer Kirche ein niederschmetterndes Resultat ergeben. Das ist alarmierend, denn Glaubwürdigkeit ist der Fels, auf dem diese Kirche steht. Wenn dieser erodiert, bis wir nur noch auf Sand gebaut haben, dann wissen wir, was mit unserer Kirche passieren wird. Wir müssen uns also bewusst werden: Unsere Kirche ist in grosser Gefahr.

Wer diese Gefahr ernst nimmt, der wird anfangen, auch bei seinen Kritikern genau hinzuhören. Sicher, es schlägt der Kirche nicht wenig Häme entgegen. Und ebenso sicher gibt es auch ausserhalb der Kirche Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit. Aber wer sich bloss noch als Opfer einer Kampagne fühlt, der wird dem eigenen Versagen und damit dem Weg aus der Krise nie auf die Spur kommen. Schliesslich beichtet man als Katholik mit gutem Grund die eigenen Sünden und nicht die der anderen.

Wer jedoch auf die Empörung der Öffentlichkeit genau hinhört, der wird nicht nur ganz konkret Hilfreiches – beispielsweise Erkenntnisse im Umgang mit Pädophilie – erfahren, er wird vor allem zu spüren beginnen, wie viel Enttäuschung in dieser Empörung zum Ausdruck kommt. Selbst in den härtesten Schlagzeilen schwingt mit, dass nach wie vor viele Menschen erwarten, dass diese Kirche ein Vorbild ist und Orientierung ermöglicht. In einer unübersichtlich global und Schwindel erregend schnell gewordenen Welt, in der allzu oft nur das Streben nach Erfolg, Macht und Vergnügen etwas zu gelten scheint, ist die Sehnsucht nach Menschlichkeit, Verlässlichkeit und Sorgfalt unübersehbar gross. Und selbst Menschen, die sich längst von der Kirche distanziert haben, scheinen von ihr immer noch zu erhoffen, dass sie für diese Werte einsteht. Deshalb schwingt in der Empörung sogar echtes Entsetzen darüber mit, dass sich die katholische Kirche als Moloch entpuppen könnte.

Der Ort der Glaubwürdigkeit

Als Versagen wird der Kirche deshalb nicht in erster Linie die Verbrechen einzelner Menschen vorgehalten. Die Enttäuschung über die Kirche besteht vor allem darin, dass sie gegen diese Verbrechen – sowohl in der Verhinderung wie in der Ahndung – zu wenig unternommen hat, dass sie zu naiv, zu blauäugig und in einigen Fällen schlicht ruchlos gehandelt hat. Wo immer sich die Kirche durch Vertuschung auf die Seite der Täter und nicht auf jene der Opfer gestellt hat, überall dort hat sie skandalös unchristlich gehandelt und erntet deshalb auch skandalöse Schlagzeilen.

Natürlich darf und soll die Kirche bei aller notwendigen Selbstkritik darauf hinweisen, wo sie bereits konkrete Schritte unternommen hat, wo sie einsichtig ist und war, und wo auf diese Einsicht konkrete Taten gefolgt sind. Allerdings muss diesen Hinweisen immer ein glaubwürdiges Eingeständnis vorangehen, andernfalls bleiben sie billiges Ablenkungsmanöver.

Auf keinen Fall wird die Kirche die Vorwürfe mit dem Hinweis entkräften können, sexueller Missbrauch geschehe bei ihr nicht häufiger als in Schulen, Sportvereinen und Familien. Erstens nimmt die Kirche seit jeher in Anspruch, nicht bloss eine Organisation unter vielen zu sein. Und zweitens weiss sie aus ihrer eigenen Geschichte nur zu genau, dass nicht die Statistik sondern der einzelne Mensch entscheidend ist. Das Individuum macht die Differenz.

Die Rückkehr zum Überschaubaren 

Weil das so ist, muss sich die katholische Kirche dringend aus der Globalisierungsfalle befreien, in die sie lange vor Wirtschaft und Politik getappt ist, nämlich bereits während des I. Vatikanischen Konzils (1869 – 1870). Die damals beschlossene und in der Folge vorangetriebene Zentralisierung zeigt dieselben Auswirkungen wie die Globalisierung: Die Kirche wird zum unübersichtlichen und letztlich unsteuerbaren Dampfer, auf dem die Probleme nicht mehr dort gelöst werden, wo sie entstehen. Bis irgendwann nicht einmal mehr festgestellt werden kann, wo die Probleme entstanden sind.

Die katholische Kirche wird sich zwingend um eine Stärkung der Regionen bemühen müssen – konkret um die von vielen Bischöfen immer wieder geforderte Stärkung der Ortskirchen, also der Bistümer. Weshalb das so sein muss, wird in der gegenwärtigen Glaubwürdigkeitskrise überdeutlich: Es nützt den Bistümern in der Schweiz nichts, wenn die römische Zentrale darauf hinweist, dass es in Südamerika und Asien Bistümer gebe, in denen alles zum Besten stehe.

Glaubwürdigkeit kann nicht global transferiert werden – man muss sie sich lokal erwerben. Noch kleinräumiger: Glaubwürdigkeit wird immer personal ausgestrahlt! Natürlich sollen wir glaubwürdige Päpste, Bischöfe, Priester und kirchliche Verantwortliche fordern, aber der nächste Franziskus, der unserer Kirche eine heilsame Wendung geben wird, der kann im Prinzip ein jeder von uns sein. Die Werkzeuge Gottes sind einzelne Personen, keine Strukturen und auch keine Statistiken – und meist wissen diese Werkzeuge nicht einmal um ihre ausserordentliche Berufung. [Anmerkung vom 28. Januar 2022: Jorge Mario Bergoglio ist seit dem 13. März 2013 Papst Franziskus.]

Der Abschied vom Perfektionswahn

Allerdings wird es aller geschichtlichen Erfahrung nach kaum das etablierte kirchliche Personal sein, das den neuen Weg der Kirche vorangehen wird. Nicht zuletzt deshalb, weil es selbst viel zu nah an der Szenerie steht und ihm so der freie Blick und die unabhängige Position fehlt.

Die Kirche wird sich deshalb unter anderem auch der Zölibatsdiskussion stellen müssen, aber viel fundamentaler, als dies momentan gefordert wird. Ausgerechnet die Debatte um sexuellen Missbrauch zeigt immer deutlicher: Schiffbruch erlitten hat nicht der Zölibat an sich – also die Ehelosigkeit – sondern das damit verknüpfte Priesterbild. Pointiert ausgedrückt: Nicht der Zölibat ist das Problem, sondern eine lebensferne kirchliche Sexualmoral, die, wenn es um die Keuschheit ihrer Priester geht, noch bis zur Hysterie gesteigert wird.

Dass ein Priester seine gesamte Sexualität in reine Spiritualität umwandeln kann, also gewissermassen zum Sublimations-Superhelden wird, daran hegten die Gläubigen in allen Epochen der Kirchengeschichte tiefe Zweifel. Es ist bestimmt kein Zufall, dass mit der Ausbildung des Pflichtzölibats im Mittelalter auch der Pfaffenschwank als beliebte Volksbelustigung entstand.

Unmenschlich ist nicht der Zölibat, sondern die Forderung, dass es für perfekte Priester perfekte Menschen braucht – und der beste Priester zwangsläufig auch der beste Katholik zu sein hat. An einem solchen Priesterbild kann man nur zerbrechen – ob man nun verheiratet ist oder nicht, Mann oder Frau.

Wenn nun unter dem Eindruck der Missbrauchsfälle noch keuschere und noch frommere Priester gefordert werden, dann wird das auf Dauer nur noch neurotischere Blüten treiben. Wie kann man nur, während man die böse Ernte eines moralischen Rigorismus erntet, noch rigoroseren Moralismus als geeignete Kur anpreisen? Das gilt im Übrigen auch für Medien und Kommentatoren, die mit grossem moralistischem Geschütz auffahren. Perfektionswahn führt zwangsläufig zu Selbsttäuschung und Vertuschung, weil schon das kleinste Eingeständnis von Schwäche die gesamte Existenz ins Wanken bringt.

Deshalb ist es gefährlich, wenn in gewissen kirchlichen Kreisen mit Vehemenz wieder ein bereits überholt geglaubtes Priesterbild propagiert wird. Ein Priesterbild, in dem Körperfeindlichkeit, Kommunikationsstörung und Beziehungslosigkeit als Ausdruck besonderer Gnade fehl gedeutet werden. Ein so verstandenes Priestertum, das vor allem auf Weltferne abzielt, muss fast zwangsläufig die Normalen abschrecken und die Gestörten anziehen. Und gegen dieses Priesterbild muss man sich zum Schutz all jener Priester wehren, die gerade unter dem Eindruck des II. Vatikanischen Konzils als normale Männer normale Priester geworden sind. Und wir dürfen auch nicht jenen Bischöfen in den Rücken fallen, die sich unter schwierigen Bedingungen für ein lebbares Priestertum einsetzen.

Sobald wir jedoch ernsthaft über ein solches Priestertum nachdenken, das den Menschen – auch den Priestern selbst – wirklich zum Wohle gedeiht, dann wird auch Bewegung in die festgefahrene Diskussion um die Zulassungsbedingungen kommen, wird sich die Frage nach Stand und Geschlecht der Priester endlich entkrampfen.

Das fordernde Wunder

Die Krise der katholischen Kirche wird dazu führen, dass viele Menschen aus dieser Kirche austreten. Damit werden sich jene bestärkt fühlen, die es schon immer böse haben enden sehen. Und fatalerweise werden auch jene, die sich eine «Gesundschrumpfung» wünschen, über den Abschied von den «Lauen» jubeln.

Man kann es aber auch ganz anders sehen: Dass so viele Menschen noch nicht ausgetreten sind, obwohl sie längst auf Distanz zur Kirche gegangen sind, das ist eigentlich ein Wunder, allerdings eines, das nicht beruhigt sondern herausfordert. Offenbar sind diese kirchenfernen Katholikinnen und Katholiken nämlich nur deshalb noch nicht ausgetreten, weil sie von ihrer Kirche doch noch etwas erwarten, und zwar nicht den nächsten Skandal, der ihnen endlich einen triftigen Grund gibt, den Austrittsbrief zur Post zu bringen. Sie warten noch zu, weil sie von der Kirche immer noch auf ein Zeichen hoffen, dass sie im Bleiben bestärkt, vielleicht sogar eines, das zum Näherrücken einlädt. Das allerdings wird keiner gewieften Imagekampagne gelingen, sondern nur der guten Nachricht, die wahrhaftig gut tut. Es braucht deshalb jenseits sämtlicher Strukturen die radikale Rückbesinnung auf jenen, dem wir diese gute Nachricht verdanken: Jesus Christus.

Text: Thomas Binotto