Die inneren Quellen finden

Reportage

Die inneren Quellen finden

In Winterthur werden regelmässig «Exerzitien im Alltag» angeboten: Ein Weg zum eigenen Inneren, zu guten Entscheidungen und weniger Hetze im Alltag.

«Beim Einstieg in meine ersten Exerzitien im Alltag stellten wir uns mit einem Bild vor. Ich wählte einen Baum, der in der Wüste steht», erzählt Beatrice Peter, selbstständige Naturschutz-Biologin, Bäuerin und Familienfrau. «Ich hatte eine strenge Zeit mit Familie und Arbeit, und das Gefühl, mich selber dabei zu verlieren.» Bei diesen ersten Exerzitien habe sie  «eine Quelle gefunden». Deshalb hat sie seither regelmässig solche Angebote wahrgenommen. «Bei meinen zweiten Exerzitien wählte ich ohne zu überlegen das Bild eines Baumes, der am Wasser steht», erinnert sie sich. 

Exerzitien im Alltag sind – wie es der Name sagt – ganz in den Alltag eingebettet. Man trifft sich in der Gruppe einmal pro Woche, jetzt in Winterthur – von ökumenischen Teams angeboten – fünfmal während der Fastenzeit vor Ostern. Die Gruppe von Anni Rickenbacher, mitgeleitet von Brigitte Poggiolini, trifft sich in der schön gestalteten Krypta von St. Peter und Paul Winterthur. «Hier machen wir zuerst eine Übung, die uns hilft, aus dem Stress weg- und ganz anzukommen», erklärt die langjährige Exerzitienleiterin Anni Rickenbacher. «Dann folgt ein Austausch: Wie geht es uns beim Umsetzen der Impulse im Alltag? Finden wir täglich eine halbe Stunde Zeit der Stille? Was hilft, was erschwert es uns?» Beim Austausch achtet die Theologin darauf, dass alle zu Wort kommen und man einander nicht Ratschläge erteilt. Wer nichts sagen möchte, muss das auch nicht. Darauf wird eine Weise der Meditation eingeübt, mal Schrift-, Bild- oder Lebensbetrachtung, mal  «stilles Dasein». Der Impuls zu dieser Meditation ist auch im kleinen Büchlein festgehalten, das die Teilnehmenden mit nach Hause nehmen für ihre «stille Zeit» zu Hause. Zum Schluss folge manchmal noch ein kurzer Austausch und Anregungen, wie die Impulse zu Hause umgesetzt werden können. 

«Die grösste Herausforderung ist, sich im Alltag täglich eine stille Zeit zu schenken», weiss Anni Rickenbacher. «Schenken! Das ist sehr schön formuliert», lacht Beatrice Peter. «Das war für mich am Anfang wirklich sehr schwierig. Ich habe alle Tages- und Nachtzeiten ausprobiert. Es war lange ein ‹Knorz› und ich hatte dauernd das Gefühl, keine Zeit zu haben. Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir selber zu wenig wichtig bin und deshalb keine Zeit finde. Da habe ich mich entschieden: jetzt will ich das. Und dann machte ich es auch.» Der 36-jährige Timon Schneider hingegen ist es sich gewohnt, sich jeden Morgen Zeit zu nehmen. «Ich brauche das einfach», erklärt er. Er ist Vater von fünf Kindern, die letzten zwei sind dreimonatige Zwillinge, und er arbeitet in der Geschäftsleitung einer Arbeitsintegrationsfirma. Für seine stille Zeit steht er am Morgen um Viertel vor sechs auf. «Das ist aber nur möglich, weil meine Frau nachts für die Säuglinge aufsteht.» Um sieben werden die Kinder geweckt, dann geht der Alltag los. Anni Rickenbacher weiss: «Es braucht Kreativität, um die Zeit für sich zu finden. Manche gehen spazieren, andere in einen Park, wieder andere kommen hierher in die Krypta. Andere richten sich zuhause eine Ecke ein, manchmal mit einer Ikone oder einer Kerze.»


Achtsamer im Leben stehen

«In dieser stillen Zeit können Erinnerungen und Gedanken hochkommen», so Anni Rickenbacher. «Schönes, Schweres ... manchmal kommt etwas immer wieder, dann ist das ein Zeichen, dass es der Moment ist, sich damit auseinanderzusetzen.» Sie selber war früher «begeisterte Hebamme». Immer wieder sei in der Stille der Gedanke gekommen, Theologie zu studieren. Bis er reif war und sie die Entscheidung wagte. Auch Timon Schneider haben die letztjährigen Exerzitien, insbesondere das jeweils angebotene Einzelgespräch mit dem Leiter, in einer wichtigen beruflichen Umbruchsphase geholfen.  

«Die Leute sagen oft, ihr Leben werde intensiver, weil sie durch die Exerzitien achtsamer sind», hat Anni Rickenbacher erfahren. Das bestätigt auch Beatrice Peter: «Man fräst nicht mehr so durch das Leben», erklärt sie. Die tägliche Zeit in der Stille und der abendliche Tagesrückblick hätten ihr Leben «gebremst». Sie sei nun mehr bei sich, verstehe besser, was im Moment dran sei, wie es ihr wirklich gehe. «Ein Ziel der Exerzitien ist sicher, sich ganz von Gott angenommen zu erfahren», ergänzt Anni Rickenbacher. «Ich habe das selber stark erlebt in meinen Exerzitien: Ich darf so sein, wie ich bin. Natürlich kann ich mich weiterentwickeln, aber ich bin grundsätzlich von Gott angenommen und darf so immer wieder neu das befreiende Wirken Jesu entdecken.» 

Beatrice Peter drückt es so aus: «Früher kam mir das Leben vor wie ein Stück nasse Seife, das mir dauernd aus der Hand flutscht. Nun kann ich besser hinhören auf meine Bedürfnisse, aber auch auf Gott, bin auch sensibler auf mein Umfeld. Daraus ergeben sich die nötigen Schritte. Ich empfinde mein Leben liebevoller, runder, präsenter.»


Tipps

Wünsche ernstnehmen: nach Innehalten, Raum für sich selbst und die Vertiefung der Beziehung zu Gott, Mitmenschen und Mitwelt.

Achtsam werden für das, was sich im Inneren bewegt. Erspüren, was trägt und im eigenen Leben wichtig ist.

Bei der Meditation bei dem bleiben, was innere Resonanz hervorruft: Freude, Vertrauen, Sorge, Widerstand. Das vertiefen und ins Gespräch mit Gott bringen. Möglicherweise zeigt sich darin eine Spur für weitere Schritte.

Offen werden für eine Ahnung oder Erfahrung der unbedingten und befreienden Zuwendung Gottes.


Text: Beatrix Ledergerber