Angst und Ungewissheit

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Angst und Ungewissheit

Nahe bei den jungen Menschen waren auch in der Zeit der Pandemie die Mittelschulseelsorge und die Lehrlingsberatung kabel. Ein Gespräch.

Die Pandemie hat Jugendliche besonders belastet. Wie haben Sie das gemerkt? 

Jasmin Gaam: Bei jungen Leuten, die psychisch vorbelastet waren, sind die Probleme in der Pandemie noch stärker hervorgekommen – sie sind in ein Loch gestürzt. Grosse Angst löste auch die andauernde Ungewissheit aus. 

Urs Solèr: Wir haben es vermehrt mit schwierigen Situationen zu tun wie Suizid-Gedanken und Depressionen. Das hängt aber auch damit zusammen, dass «kabel» neu Beratungen direkt in den Berufsfachschulen anbietet, wo die Jugendlichen unkompliziert und während der Schulzeit Zugang haben. 

Wie hat sich der Lockdown ausgewirkt?

Thomas Kleinhenz: Wir merkten deutlich den Unterschied, ob Schülerinnen und Schüler aus den ländlichen Gebieten mit Einfamilienhäuschen kamen oder aus der Agglomeration, wo sie weniger Rückzugsorte hatten und die Enge auch zu deutlich mehr Spannungen innerhalb der Familien führte. Einzelne haben im Lockdown abgehängt und mussten das Schuljahr wiederholen.

Solèr: Bei einigen, die die Lehre während der Pandemie abgebrochen haben, fehlte die Motivation, nach einer neuen Stelle zu suchen: es sei sowieso alles zu oder es würden keine Lehrlinge eingestellt. Was nicht unbedingt der Fall war. Durch das Herumhängen sind die einen in die Drogen abgedriftet, verdienten etwas Geld mit Dealen, kamen mit dem Gesetz in Konflikt, die Eltern sind verzweifelt ... 

Wie konnten Sie in Kontakt bleiben?

Kleinhenz: Die ausserschulischen Begegnungsmöglichkeiten, Projekte und Reisen haben den Jugendlichen, aber auch uns, sehr gefehlt. Wir haben online so gut es ging Kontakt gehalten.

Gaam: Das Freifach Religion war im Online-Unterricht gestrichen, so hatte ich keine Begegnungsmöglichkeit mehr mit den jungen Leuten. Doch ich habe auf verschiedenen Kanälen meine Handy-Nummer angegeben und habe einige, teils sehr lange Telefonate geführt. 

Konnten Sie helfen?

Solèr: Für einige Lernende mit nur einem Tag Berufsschule war Online-Unterricht schwierig, besonders wenn zuhause die Infrastruktur oder der Platz fehlte. kabel konnte auf Anfrage bei einigen den Internetzugang finanziell unterstützen.

Gaam: Ich begleite eine Schülerin, die dringend fachliche Hilfe brauchte, aber alle Therapiestationen waren überlastet. Einige Veränderungen, zum Beispiel eine neue Wohnsituation, waren möglich, aber viel zu spät und nun hat sie Angst, in der Schule den Anschluss zu verpassen, weil sich alles so in die Länge gezogen hatte. 

Kleinhenz: Wir merken sehr stark, wie sehr die psychologische Beratung, die früher von der Jugendseelsorge gratis angeboten wurde, jetzt fehlt. Sie ist leider im Rahmen der Umstrukturierung der Jugendseelsorge abgeschafft worden. Wir kommen bei unserer Beratung an Grenzen und müssen diese Jugendlichen an psychologische Fachstellen überweisen, sofern dort überhaupt ein Platz frei ist. Das würden manche Betroffene zwar gerne, möchten aber nicht, dass die Eltern über die Krankenkassenabrechnung erfahren, dass ihr Kind in psychologischer Beratung ist. Oder sie fürchten, die finanzielle Belastung könnte die familiären Spannungen erhöhen.

Hat die Pandemie die jungen Leute verändert?

Solèr: Im Gespräch mit Lernenden fällt mir auf, dass sie heute viel eher bereit sind, über Schwierigkeiten zu reden. Depressionen oder psychische Probleme kommen schneller auf den Tisch, man spricht es an, es ist nicht mehr so ein Tabu wie früher. 

Gaam: Neuerdings ist Wandern unter den Jungen Mode geworden. Oder Spazieren. Früher gingen sie shoppen oder in den Ausgang. Sie haben neue Ressourcen entdeckt und gemerkt, wie gut es tut, sich draussen zu bewegen. 

Kleinhenz: Sie schätzen die Schule viel mehr als früher. Sie wissen jetzt, was es heisst, eine Alltagsstruktur zu haben und ihren Freizeitaktivitäten in Vereinen und Sport nachgehen zu können.

Text: Beatrix Ledergerber