Mensch, komm aus dem Grab!

Festbeitrag: Ostern

Mensch, komm aus dem Grab!

Jesus war mit den drei Geschwistern aus Bethanien – Marta, Maria und Lazarus – sehr gut befreundet. 

Er war wiederholt bei ihnen zu Gast und von den biblischen Schriften erfahren wir, dass Jesus ihnen sehr nahestand. Es ist deshalb mehr als verständlich, dass die beiden Schwestern Jesus dringend rufen liessen, als Lazarus schwer krank wurde – in der Hoffnung, dass er unverzüglich kommen würde. Jesus aber nahm den Weg nicht sofort auf sich und kam erst nach Bethanien, als Lazarus bereits vier Tage tot im Grab lag (Johannes 11,1–44). Es war nach menschlichem Ermessen zu spät.

Im Leben machen wir die Erfahrung, dass Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann, auch bei allem guten Willen. Die Gegenwart können wir mitgestalten, die Zukunft beeinflussen. Die Vergangenheit aber bleibt unveränderbar; endgültig ist sie, wenn es, wie oben beschrieben, um den Tod geht. 

Die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus am Ostersonntag hat diese Logik für immer radikal widerlegt: Jesus Christus ist und bleibt ewiges Leben (1 Johannes 5,20). Auch als er am Kreuz stirbt und ins Grab gelegt wird, bleibt er weiterhin in seiner Gottheit unerschöpfliche Quelle des Lebens. Damit wir daran nie mehr zweifeln, ist er am dritten Tag auferstanden. Er hat uns aufgezeigt, dass er den Tod entmachtet hat. Seine Auferstehung ist vor allem die unsrige. 

Das Scheitern, alle nicht realisierten Träume, die Niederlagen des Lebens und jede Enttäuschung aus einer zwischenmenschlichen Beziehung sind – verbunden mit Christus – nicht endgültig: Sie können mit ihm neu belebt, verwandelt und zur Vollendung geführt werden. Ostern ist unser Fest, das Fest der Bejahung des Menschlichen, durch Jesus Christus, den menschgewordenen Gott.

An Ostern feiern wir die Suche Gottes nach uns. Er sucht uns überall dort, wo wir starr, gelähmt, blockiert, verzweifelt, skeptisch und resigniert sind. Er sucht uns, um uns zu sagen: «Ich bin auferstanden, um dich zu suchen. Ich bin herausgekommen, um dir zu sagen: Lazarus, komm heraus!» (Johannes 11,43) – Du Mensch, komm heraus!

Nur der, der die Kraft hat, den Tod zu überwinden, kann uns davon überzeugen, dass es im Leben nie zu spät ist. Er kann uns immer wieder davon überzeugen, dass wir neu anfangen können. Er kann uns davon überzeugen, dass die Niederlagen des Lebens eine Lebensschule sein können, die Grundlage für eine neue Lebensblüte. Das Ende, das auf uns wartet, ist nicht Ende, sondern Vollendung. Die christliche Hoffnung ist keine Utopie, sondern bereits eine menschliche Erfahrung: «Quia surrexit Dominus vere, alleluia!», wie es im «Regina coeli» heisst: «Freuen wir uns und frohlocken wir, denn der Herr ist wahrhaft auferstanden, halleluja!»

Text: Joseph Maria Bonnemain, Bischof im Bistum Chur