Erzählen – bis unter die Haut

Reportage

Erzählen – bis unter die Haut

Ein Bibeltext, nicht einfach vorgelesen, sondern frei erzählt. Den Unterschied erlebt, wer an einem Erzählanlass von «BibelErz» dabei ist. Zu Besuch bei «Ester – ein persisches Märchen».

Man könnte eine Stecknadel fallen hören, so still ist es in der Kirche Heilig Geist in Zürich-Höngg. Es ist dunkel. Plötzlich leuchtet eine Kerze auf, eine Stimme erklingt, begleitet wird sie von Harfenmusik. Und die Vorführung nimmt ihren Lauf. 

Es ist die Geschichte der persischen Königin Ester. Sie bewahrt das jüdische Volk – ihr Volk – durch ihren Mut vor dem Hass des Königs, der das Volk ausrotten will. Damit ist der Grundstein für ein wichtiges jüdisches Fest gelegt: «Purim», an dem Jüdinnen und Juden bis heute Esters Tat gedenken. Das Buch Ester aus dem Alten Testament birgt reiche Schätze, die Moni Egger, Katja Wissmiller und Marie-Theres Rogger mit der Welt teilen möchten. Die beiden Theologinnen und die Heilpädagogin sind Erzählerinnen, die es sich zur Mission gemacht haben, biblischen Geschichten und Märchen neues Leben einzuhauchen. Sie sind davon überzeugt, dass die Bibel nahbarer und verständlicher wird, wenn die Geschichten frei und persönlich erzählt werden. Dazu haben sie den Verein «BibelErz» gegründet. «Erz» ist eine Abkürzung für «Erzählen», verweist aber auch auf das Gestein, das aus der Tiefe der Erde an die Oberfläche geholt wird, manchmal wertvoll, manchmal taub. 

Die Welt von Ester im Hier und Jetzt

In der Kirche werden die Zuhörerinnen und Zuhörer nach und nach auf eine Reise mitgenommen: in das alte persische Reich, in dem die Jüdin Ester die Menschen in ihren Bann zieht und mit dem treuen Hofbeamten und Verwandten Mordechai gegen die Intrigen von Grosswesir Haman kämpft. Nicht nur die Figuren bekommen Stimme und Gestalt, auch der Kontext mit seinen subtilen Feinheiten wird wie fliessend vermittelt. Da heisst es nicht nur: «Sie liefen umher und klagten» – der Satz wird untermalt mit immer schneller und kürzer werdenden Harfentönen. So wird förmlich hörbar, wie die Figuren umhereilen und den Klageruf über das ganze Reich ausbreiten. Der Klageruf erklingt dabei auf Hebräisch, natürlich im Originallaut. «Das Erzählen lebt vom Moment», sagt Moni Egger. Weil es eben viel mehr sei, als bloss einen Text wiederzugeben, darum könne man Stimmungen und Charaktere gleichermassen verstehen, selbst in einer fremden Sprache. 

Wie das möglich sei? Im Unterschied zum rein vorgelesenen Text existiere praktisch keine Barriere zwischen den Erzählerinnen und dem Publikum. Auch Mimik und Gestik – Elemente, die beim Vorlesen fehlten – helfen, ins Geschehen einzutauchen. Sie lassen die Charaktere wie real vor einem stehen.

Für die drei Erzählerinnen wird auch das Erzählen selbst zu einem Erlebnis. «Es ist nicht nur ein kognitiver Akt: Der Atem, die Bewegung und die Körperhaltung machen das Erzählen für uns physisch spürbar und wir schlüpfen in die Haut der Beteiligten. Es ist eine Art des Erlebens, das mir verstehen hilft und mich erleben lässt, dass ich Teil eines grösseren Ganzen bin.» 

Eine antike Geschichte für die aktuelle Zeit

Warum gerade das biblische Buch Ester als Erzählung? Dafür gibt es mehrere Gründe, sagt Moni Egger. Kollegin Katja Wissmiller hatte eine Weiterbildung zu diesem Buch besucht, gerade rund um den Zeitpunkt, zu dem Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde. Den Erzählerinnen wurden da die erschreckenden Parallelen dieses Buches zum politischen Geschehen deutlich: «Ein Herrscher, der sich selbst überschätzt, und damit ein ganzes Volk ins Unglück stürzen könnte: Das kann einem auf der einen Seite Angst machen, andererseits kann es auch entlasten, dass dies offenbar schon immer zum Lauf der Welt gehört hat.» Auch die politische Situation in der Ukraine lässt die jahrtausendealte Geschichte aktueller denn je erscheinen. Motivation genug für die Erzählerinnen, sie in ihr Repertoire aufzunehmen. Moni Egger sagt: «Ester ruft ihr Volk zum gemeinsamen Fasten und Beten auf. Die Friedensgebete aktuell erinnern mich daran und sind ein ähnlicher Versuch, friedlich mit dem Hass und der Gewalt umzugehen.»

Text: Ewelina Bajor