Mehr bringt mehr

Zusammen leben? – Ethik & Ökologie  (1/6)

Mehr bringt mehr

Ein Spaziergang der Töss entlang an einem sonnigen Märzsonntag: Überall entdecke ich Schlüsselblumen, Primeln, Veilchen und Buschwindröschen, die ersten Blätter an den Bäumen, Bienen summen, Vögel zwitschern – und die Sonne wärmt Körper und Herz.

 Grosse Dankbarkeit wallt in mir auf über dieses alljährliche Wunder der Schöpfung. Es scheint, dass die Lebewesen der Natur allen traurigen Umständen der Welt trotzen und vor Lebenskraft sprühen. Der Krieg in der Ukraine, die Covid-Pandemie und persönlich belastende Dinge scheinen in dieser Idylle meilenweit weg. 

Schaue ich genauer, bekommt das paradiesische Bild bald Risse. Im Gebüsch liegt immer wieder Abfall, und an einer Feuerstelle finden wir nicht nur erkaltete Asche, sondern obendrauf säuberlich drapiert zwei leere Bierbüchsen. Dieses Sinnbild für Gedankenlosigkeit bleibt in meinem Gedächtnis haften.

Was mir an diesem warmen Frühlingstag zu denken gibt: Seit über einem Monat hat es in der Schweiz nicht mehr geregnet, und die Natur lechzt regelrecht nach Wasser. Und das bereits im März, nicht erst im Hochsommer. Ich sehe Felder, die bewässert werden müssen, damit die Saat überhaupt aufgehen kann. Erste Waldbrände in verschiedenen Kantonen beschäftigen die Feuerwehr. Die Klimaerwärmung ist ein Fakt, den wir unserem Lebensstil verdanken. Weil wir Menschen über unsere Verhältnisse leben und die Ressourcen der Erde ausbeuten, leidet die Natur. Letztlich sägen wir damit an unserem eigenen Ast und werden es büssen. Sehen wir das ein, bevor es definitiv zu spät sein wird, und können wir diesen verhängnisvollen Prozess überhaupt noch stoppen?

Ich will mich nicht als «Moralapostelin» aufspielen, denn auch ich genies-se diese Welt und ihren Luxus. Und doch bin ich überzeugt, dass viele kleine Schritte zu grösseren Schritten führen können. Weniger Fleischkonsum, wann immer möglich aufs Fliegen und Autofahren verzichten, bewusstes Einkaufsverhalten, Wasser sparen, Recycling … es gibt so viele Möglichkeiten, im Alltag zur Umkehr beizutragen. Auf den Konsum bezogen orientiere ich mich am Grundsatz «Weniger ist mehr».

Was hat das alles mit meinem Glauben zu tun? Ich glaube fest daran, dass Gott unsere Welt gut geschaffen hat und sie uns Menschen zur Freude schenkt. Er hat uns mit Verstand ausgestattet, um die Ressourcen der Erde vernünftig zu nutzen, so dass auch nächste Generationen auf unserem Planeten leben können. Aber das erfordert den Einsatz von uns allen, und wir dürfen diese Probleme nicht der Politik allein überlassen, sondern müssen selbst an vielen kleinen Orten mit anpacken nach dem Motto «Mehr bringt mehr».

Ich muss mich an der eigenen Nase nehmen. Warum habe ich an jenem schönen Märzsonntag die beiden Bierbüchsen auf der Feuerstelle nicht mitgenommen und in den nächsten Abfallkübel entsorgt? Hier wäre mehr tatsächlich mehr gewesen!


Leserbrief

Vielen Dank an Claudia Gabriel für ihre Schilderung ihres Spaziergangs entlang der Töss. Ich kann ihr beipflichten. Einzig der Schluss ist kein Happy End. Schön wäre es, sie hätte die Bierbüchsen mitgenommen und mitgetragen zur nächsten Alu-Recyclingstelle. Aluminium ist nicht schwer zum Tragen, als Rohstoff aber zu 100% wiederverwertbar. Wenn man weiss, welche Schäden Rohstoffminen im Süden verursachen, ist es zu wenig weit gedacht, die Büchsen im nächsten Abfallkübel zu entsorgen. 
Tonja Jünger, Zürich

Text: Claudia Gabriel, Seelsorgerin am Kantonsspital Winterthur und im Alterszentrum Oberi