Traurige Gestalten

Zusammen leben? – Ethik & Ökologie (2/5)

Traurige Gestalten

Was sind wir doch für traurige Gestalten: Wir wissen, was gut wäre, und tun es noch lange nicht. 

Wir wissen um die Folgen des verschwenderischen Umgangs mit der Natur, seit Jahrzehnten. Dennoch dreht sich die Spirale der Weltverschwendung weiter, die Ausbeutung von Rohstoffen nimmt ungeahnte Ausmasse an, und auch die Erderwärmung ist nicht mehr zu überspüren. Es ist traurig, wie wir uns damit schwertun, anders zu handeln und weniger verschwenderisch zu leben – unserem Wissensstand entsprechend. Es macht mich traurig, wenn ich merke, wie ich selbst oft Lebensmittel, Kleidung, elektrische Geräte, Mobilität unbedacht nutze, als ob nichts wäre. 

Es gibt eine traurige Gestalt in der Bibel, die mich schon immer beeindruckt: der sogenannte «reiche Jüngling». Die Evangelien erzählen von diesem Wohlhabenden, der Jesus fragt, wie er richtig leben soll (Markus 10,17–22). Jesus verweist ihn auf die Gebote, von denen der Mann sagt, dass er sie befolge. Dann ergänzt Jesus, dass er seinen Besitz den Armen schenken und ihm nachfolgen solle. Doch genau dies schafft der Reiche nicht und geht «traurig fort». Dieser Rückzug berührte mich schon als Kind zutiefst, ja ich bemitleidete den reichen Jüngling, der so motiviert zu Jesus geht und sich dann wieder abwendet, weil er sich nicht von seinem Reichtum lösen kann. Heute stelle ich fest, dass auch ich mich nicht von den Bequemlichkeiten meines Alltags lösen kann, wohl wissend, dass dafür andernorts Menschen ausgebeutet und Landschaften belastet werden. Ja, was bin ich selbst doch für eine traurige Gestalt.

Als Kontrast und Anregung möchte ich eine andere biblische Figur daneben- stellen. Sie kommt alles andere als freiwillig zu Jesus, geht dann allerdings befreit wieder von ihm weg. Ich meine die Ehebrecherin, deren Steinigungsurteil Jesus abwendet, indem er sagt: «Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein» (Johannes 8, 2–11). Anders als der reiche Jüngling hat diese Frau ein Gebot gebrochen. Aber weder die Todesstrafe noch ihr konkretes Vergehen sind für Jesus wichtig. Vielmehr konfrontiert er die Ankläger mit ihrer eigenen Schuldhaftigkeit und entlässt die Frau in eine neue Freiheit. «Geh, und sündige von jetzt an nicht mehr», ermutigt sie Jesus. 

Beide Begebenheiten verhandeln weder ökologische Fragen noch den Klimawandel. Allerdings beleuchten sie den Widerspruch, in dem wir uns bezüglich der gefährdeten Schöpfung wiederfinden: Wie können wir tun, was wir als gut erkannt haben? Die traurige Figur des reichen Mannes führt uns vor Augen, wie träge wir zuweilen sind, zu träge, unser Verhalten zu ändern. Die Frau, die Jesus vor der Steinigung bewahrt, ermutigt dazu, uns aus der Trägheit zu lösen und anders zu leben als bisher. «… von jetzt an nicht mehr»: anspruchsvoll, ja auch utopisch, aber alles andere als traurig – und jeden Tag einen Versuch wert. 

Text: Christine Stark