Wie kocht ein blinder Mensch?

Reportage

Wie kocht ein blinder Mensch?

Begegnungen bauen Ängste ab. Das erleben Pfarreigruppen an den Anlässen mit der Behindertenseelsorge Zürich – nicht nur im Jubiläumsjahr.

Können Menschen mit Sehbehinderung Ski fahren? Wie kocht ein blinder Mensch? Wie führe ich einen sehbehinderten Menschen über die Strasse? Und was bedeutet eigentlich Barrierefreiheit? Mit diesen und vielen weiteren Fragen kommen die Firmandinnen von Uster zum Begegnungsanlass der Behindertenseelsorge der katholischen Kirche im Kanton Zürich. Reto Frey beantwortet sie gerne und geduldig. Er blickt dabei über die Köpfe der anderen im Raum hinweg, denn seine Augen erkennen sein Gegenüber ohnehin kaum.

Reto ist seit einem Unfall, der sich vor zehn Jahren ereignete, stark sehbehindert. Er sieht alles wie durch den Boden einer Glasflasche hindurch. Seine Lebensfreude hat er dadurch nicht eingebüsst. Der 50-Jährige liebt das Reisen. Fremde Länder faszinieren ihn, besonders die Menschen, die Gerüche und das Essen. Überhaupt dreht sich bei Reto viel um Gewürze und Speisen, denn er ist Koch von Beruf.


Selbstbestimmtes Leben

An diesem trüben Samstagvormittag zeigt Reto den jungen Menschen um ihn herum, wie er mit einer sprechenden Waage Zutaten abwiegt, wie er mit einem elektronischen Stift die Namen der Gewürze abliest, die er zuvor auf einen Chip einprogrammiert hat, wie er mit einem Farberkennungsgerät Wäsche trennt und wie ihm sein Smartphone Websites und E-Mails vorliest. All diese Hilfsmittel ermöglichen Reto ein selbstbestimmtes Leben, das er gestalten kann, wie er es möchte. Selbstbestimmung ist für den 50-Jährigen besonders wichtig. Er hatte Glück, dass er selbst entscheiden konnte, wie er wohnen, leben und arbeiten möchte. Viele Menschen mit Behinderung im Kanton Zürich haben bislang kaum eine andere Möglichkeit, als in ein Heim zu ziehen.

Es ist wichtig, dass wir in unseren Köpfen verankern, dass so viel möglich ist.

Ingrid Dettling, Behindertenseelsorge 

Die 15 Firmanden tauchen an diesem Begegnungstag in Retos Welt ein. Ausgerüstet mit Brillen, bei denen ein Balken ihr Sichtfeld einschränkt oder mit denen sie nur durch einen winzigen Punkt überhaupt etwas sehen können, ertasten, riechen und schmecken sie verschiedene Gewürze. Dabei lernen sie unterschiedliche Seheinschränkungen wie den Röhrenblick kennen. Dann erkunden sie mit verbundenen Augen und einem Blindenstock den Park rund um das Gemeindehaus.

Daniel, ein Informatiker im ersten Lehrjahr, wird am Ende sagen: «Mich haben die Gespräche mit Reto am meisten beeindruckt.» Und Patrizia, im ersten Jahr ihrer KV-Lehre, erklärt: «Ich begegne Menschen mit Behinderung schon immer respektvoll. Nun weiss ich aber eher, wie sie sich fühlen.» Rund die Hälfte der Firmgruppe hatte zuvor noch nie etwas von Inklusion und Barrierefreiheit gehört. Am Ende können alle erklären, dass Barrierefreiheit nicht nur Aufzüge, die weissen Leitlinien auf den Strassen und Ansagen am Bahnsteig betrifft, sondern auch Webseiten sollten mit der Tastatur bedienbar sein statt nur per Maus. Und bei Inklusion geht es um die Möglichkeit, dabei zu sein, mitmachen und mitbestimmen zu können. Wie es im Inklusions-Lied auf der Website der Behindertenseelsorge heisst: «Inklusion nimmt uns in unsern Stärken wahr. Inklusion kommt mit den Unterschieden klar.» Ingrid Dettling, die die Pfarreiarbeit bei der Behindertenseelsorge leitet, betont, dass ein wichtiger Schritt hin zur Inklusion darin besteht, dass wir die Barrieren in unseren Köpfen abbauen. Wenn ich einen Menschen mit Behinderung nicht zum Skifahren einlade, weil ich von vorneherein denke, er könne nicht Ski fahren, erschwert das die Begegnung. «Es ist wichtig, dass wir in unseren Köpfen verankern, dass so viel möglich ist.»

Firmandinnen und Firmanden tauchen in die Welt sehbehinderter Menschen ein und erfahren unter anderem, mit welchen Hilfsmitteln ein selbstbestimmtes Leben möglich ist (hier z.B. mit einem Farberkennungsgerät). Foto: Christoph Wider

Vertiefte Begegnung

Rund 25 Anlässe wie diesen bietet die Behindertenseelsorge der katholischen Kirche im Kanton Zürich jährlich an. Sie stehen unter dem Motto «Vertiefte Begegnung», denn es geht darum, mit Menschen mit Behinderung in Kontakt zu kommen. Reto weiss, wie wichtig das ist. Er sagt von sich selbst: «Vor meinem Unfall hatte ich auch Ängste, mit behinderten Menschen in Kontakt zu kommen.» Die Pfarreien können zwischen verschiedenen Themen wie gemeinsam kochen, Sport treiben oder die Natur erkunden wählen oder ganz eigene Wünsche einbringen. Dieses Jahr feiert die Behindertenseelsorge ihr 50-Jahr-Jubiläum. Die Begegnungen sind bislang vor allem auf Firmgruppen und den Religionsunterricht in der Oberstufe ausgerichtet, aber im Jahresprogramm der Behindertenseelsorge ist für jeden etwas dabei.

Können Menschen mit Sehbehinderung also nun Ski fahren? «Ja, sie können. Es muss nur jemand vorausfahren und ihnen über ein Funkgerät sagen, wo sie hinfahren sollen», erklärt Ingrid Dettling. Und wie geleite ich einen blinden Menschen über die Strasse? «Zuerst schaue ich, ob er wirklich Hilfe braucht. Wenn er es alleine kann, lasse ich ihm seine Selbstständigkeit. Wenn mein Gegenüber Hilfe sucht, stelle ich mich ihm mit Namen vor und frage, ob ich Hilfe anbieten darf. Dann halte ich meinen Ellbogen bereit, damit die Person sich daran festhalten kann.»

Text: Miriam Bastian, freie Mitarbeiterin