Empfänglich werden

Interview

Empfänglich werden

Elisabeth Boesch hat als Architektin die Renovation des Tonhalle-Saals geleitet. Ilona Schmiel ist Intendantin des Tonhalle-Orchesters. Was trauen sie diesem Konzertraum zu?

Ein einziges Wort, um den grossen Saal der Tonhalle zu charakterisieren…

Ilona Schmiel: Prächtig.

Elisabeth Bösch: Grossartig.

Weshalb gerade diese Begriffe?

Ilona Schmiel: In der Pracht steckt Überfülle – aber auch etwas aussergewöhnlich Schönes. Pracht bezieht sich auf die Architektur, aber es bezieht sich auch auf den Klang, der sich darin entfalten kann.

Elisabeth Bösch: Grossartig ist der Saal unter anderem, weil er ein Erstlingswerk ist. Er wurde 1895 von Architekten gestaltet, die bis dahin nur Theater und Opernhäuser gebaut hatten. Und ihr Konzertsaal hat auf Anhieb funktioniert. Vor allem die Akustik, aber auch die Ausschmückung.

Sie sind seit 2014 Intendantin der Tonhalle, Ilona Schmiel. Was unterscheidet den renovierten Saal vom alten Saal?

Ilona Schmiel: Seine Farbigkeit. Als ich 2012 nach längerer Abwesenheit wieder mal in der Tonhalle war, kam sie mir verstaubt vor. Nachdem ich 2014 als Intendantin begonnen hatte, legte sich das zwar ein wenig, aber ich konnte verstehen, dass es auch anderen Menschen, die selten hier waren, so vorkam. Jetzt aber ist es ein einladender Saal. Auch wenn er rund 1400 Plätze hat, wirkt er geradezu intim. Durch die Farbgestaltung strahlt er eine Wärme aus, wie er es vor der Renovierung nicht tat.

Ilona Schmiel
Ilona Schmiel

«Ich erinnere mich an das ‹War Requiem› von Benjamin Britten, an die Einführung und an das Nachgespräch mit dem Dirigenten Kent Nagano. Das war damals Anfang Oktober 2021 sehr bewegend, aber jetzt wäre es wohl kaum auszuhalten. Man erlebt jedes Werk in einem Kontext. Das ‹War Requiem› wird für mich deshalb in der Rückbesinnung auf die Aufführung erst recht zu einem tief berührenden Erlebnis.»

Die Säulen sind nun rosa.

Ilona Schmiel: Früher dominierten beige und grau. Durch die Farbigkeit hat der grosse Tonhallesaal eine neue, prägnante Sinnlichkeit erhalten. Das verändert ihn komplett. Er hat nun eine freundliche Ausstrahlung. Und er hat nach wie vor eine gute Grösse – eine menschliche Grösse.

Elisabeth Bösch, was war während der Renovation Ihre Grundhaltung dem Raum gegenüber?

Elisabeth Bösch: Wir wollten die akustischen und architektonischen Qualitäten unter keinen Umständen gefährden. Vieles war in der Vergangenheit verloren gegangen oder überdeckt worden. Diese Qualitäten zurückzuholen und zu verstärken, das war unsere eigentliche Herausforderung. Wir haben aber auch sehr, sehr viel gemacht, was nicht sichtbar ist. Alle Oberflächen wurden erneuert, die Lüftung, die Elektrizität, das Licht, der Brandschutz, die Sicherheit. All das wurde auf den neusten Stand gebracht. Im Vordergrund stand jedoch immer die Stimmung. Dafür sorgt beispielsweise auch das Tageslicht, das die Decke in Szene setzt. In der Dämmerung kommen die Gemälde an der Decke wunderbar zur Geltung. So viel farbiger ist der Saal übrigens gar nicht, denn die Grundfarbe war schon 1895 grau.

Ilona Schmiel: Dennoch hat er sich komplett verändert.

Elisabeth Bösch: Durch das Freilegen des rosafarbenen Marmorstucks der Säulen ist er architektonisch klarer geworden. Die Deckengemälde dagegen waren früher nicht anders, sie wurden im Laufe der Jahrzehnte einfach stark verschmutzt. Viel Arbeit haben wir deshalb in die Reinigung gesteckt. Zudem haben wir das ursprüngliche Gold wieder hervorgeholt. Wir haben ganz wenig neu vergoldet. Ich empfinde den Saal deshalb jedoch nicht als bunt. Er lebt von einer zarten Farbigkeit.

Ilona Schmiel: Mir kommt er sehr bunt vor. Vor allem für einen Konzertsaal im 21. Jahrhundert. Und mir gefällt das. Man spürt wieder seine Sinnlichkeit. Er hat einen Glanz, der nicht vordergründig ist, nicht kitschig. Bei allem Strahlen ist auch eine gewisse Zurückhaltung spürbar.

Elisabeth Bösch: Da sind wir uns wieder absolut einig. Wenn ich den Saal nicht als bunt empfinde, dann meine ich damit, dass er nicht von kräftigen Farben dominiert wird. Er spielt mit gedeckten Farben, mit farbigen Linien und Bändern, aber nicht mit farbigen Flächen.

Ilona Schmiel: Ich lebte zur Zeit des Mauerfalls in Berlin und war sehr oft im Ostteil der Stadt. Damals habe ich gelitten unter dem trostlosen Grau. Farbe bedeutet für mich Energie. Und diese Energie spüre ich jetzt im grossen Saal.

Elisabeth Bösch: Das sehe ich genauso. Vor der Renovation wirkte er müde.

Elisabeth Boesch
Elisabeth Boesch

«Das Eröffnungskonzert mit der dritten Sinfonie von Gustav Mahler war unglaublich. Ich habe diese Sinfonie schon mit anderen Orchestern und an anderen Orten gehört. Aber an diesem Abend war das Erlebnis magisch. Mir kommen sogar jetzt noch fast Tränen, wenn ich daran zurückdenke.»

Die Tonhalle wurde in der Vergangenheit auch Musiktempel genannt. Können Sie mit dieser Bezeichnung heute noch etwas anfangen?

Ilona Schmiel: Tempel ist für mich ein ganz falscher Begriff. Die Tonhalle ist kein Tempel der Überhöhung und Abgehobenheit. Die Tonhalle ist ein Saal, in den alle eingeladen sind. Deshalb gefällt mir die schlichte, offene Bezeichnung Konzertsaal.

Elisabeth Bösch, Sie haben sich jahrelang bis in jedes Detail mit dem Saal vertraut gemacht. Wenn Sie jetzt ins Konzert gehen, hat sich ihr Musikerlebnis verändert?

Elisabeth Bösch: Ich war seit der Wiedereröffnung schon viele Male im Konzert und sass an unterschiedlichen Orten. Oft schliesse ich die Augen, weil ich dann besser hören kann. Ich finde, die Akustik hat sich verändert.

Auch verbessert?

Elisabeth Bösch: Ja. Und vielleicht trägt dazu sogar die Gestaltung des Saals bei. Ich stelle mir vor, dass dieser Arbeitsort Orchester und Dirigenten zusätzlich motiviert, dass sie in einem kraftvollen Saal besser spielen als in einem verlebten. Das hat sogar Auswirkungen auf das Publikum, das durch den neu gestalteten Raum wahrscheinlich empfänglicher wird.

Ilona Schmiel: Auch die grössere Bühne trägt dazu bei. Dadurch hat sich die Akustik noch mehr zum Positiven verändert. Die Transparenz zwischen den Registern, also den Instrumentengruppen, ist klarer geworden. Man hört beispielsweise viel mehr Bassfrequenzen. Und wenn man im Parkett sitzt, spürt man sie sogar körperlich. Weil die Bühne wieder mit dem Parkettboden verbunden ist, werden die Schwingungen direkt übertragen.
Der Raum ermöglicht nun einen viel stärkeren Energieaustausch. Er steigert die Bereitschaft des Orchesters alles zu geben und die Bereitschaft zur Aufnahme beim Publikum. Natürlich ist das Ereignis immer noch davon abhängig, dass hervorragend gespielt wird. Aber mein Eindruck ist, dass auch das jetzt noch viel häufiger gelingt, weil sich die Musikerinnen und Musiker so freuen, in diesem Raum zu musizieren.

Elisabeth Bösch: Vor der Renovation habe ich das Publikum häufiger recht reserviert erlebt, es wurde auch viel öfter gehustet. Heute spüre ich eine grössere Bereitschaft, sich auf ein Erlebnis einzulassen.

Die Heimkehr in die Tonhalle fiel praktisch zusammen mit dem Ende der Covid-Massnahmen. Eine glückliche Fügung?

Ilona Schmiel: Ein Glücksfall! Wir konnten mit der vollen Saalkapazität starten. Wir durften also plötzlich wieder das kollektive Ereignis in fragilen Zeiten erleben. Und alle im Publikum und auf der Bühne haben nur schon das unglaublich genossen. Diese positive Energie, die speichert sich in Gebäuden. Davon bin ich überzeugt.

Elisabeth Bösch: Der Architekt Adolf Loos, um 1900 ein Wegbereiter der modernen Architektur, war der Überzeugung, dass die Akustik eines Raumes besser wird, wenn in ihm gute Musik von guten Musikern gespielt wird, weil sich das im Raum ablagert. Ein schöner Gedanke, auch wenn er physikalischen Messungen nicht standhalten dürfte.

Ilona Schmiel: Was man aber schon sagen kann: Der Saal ist ein Instrument. Da ist sehr, sehr viel Holz, das sich einschwingt, das je nach Feuchtigkeit und Temperatur anders klingt. Dieses Instrument müssen sich Dirigent und Orchester wieder neu erobern. Das ist ein Prozess, in dem schon sehr viel passiert ist. Wir sind aber immer noch dabei, neue Aufstellungen des Orchesters auszuprobieren. Da gibt es noch ganz viele Feinheiten auch akustisch zu entdecken.

Sie versuchen mit neuen Formaten auch ein junges Publikum für klassische Musik zu begeistern. Ist der Saal mit seiner Pracht dabei eher Hilfe oder Bürde?

Ilona Schmiel: Es ist tatsächlich nicht leicht, ein junges Publikum, das gar keinen Bezug zu uns hat, in diesen Gebäudekomplex zu locken. Der Bau ist halt nicht transparent und durchlässig, da wird man nicht durch die Architektur unmittelbar hineingezogen. Aber wenn die Besucherinnen und Besucher da sind, dann ist entscheidend, was im Konzert geschieht. Wenn man hier ein positives Erlebnis hat, dann funktioniert auch dieser Ort sehr gut. Ich würde mir aber wünschen, dass die Durchlässigkeit von der Terrasse her noch besser funktioniert. In etlichen Situationen ist der Zugang zum Konzertsaal zu stark abgeriegelt.

Der Saal stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Wo sehen Sie, Elisabeth Bösch, seine Verankerung im Hier und Jetzt?

Elisabeth Bösch: Der Saal spricht aus seiner Zeit. Die Vorstellung damals war: Man kommt unten rein, geht hoch und empfängt die Kultur, dann steigt man wieder hinunter. Und das war jenen vorbehalten, die dafür genügend Geld hatten. Mit dem Anbau von 1939 wurde dieses Bild durch das Foyer, die Terrasse und den Blick zum See aufgebrochen. Diese Weite und dieses Freie werden mit dem neu gestalteten Foyer nochmals verstärkt. Der Saal erscheint nun wie ein Juwel in einer zeitgemässen Fassung.

Viele haben die Maag-Halle lieb gewonnen. Sie auch?

Ilona Schmiel: Wir alle waren stolz auf die Maag-Halle als Provisorium, weil sie zum einen gut geklungen hat und weil sie zum anderen perfekt das 21. Jahrhundert verkörperte. Sie war buchstäblich niederschwellig, der einzige Konzertsaal der Welt, den sie ohne eine einzige Stufe, nur mit einer winzigen Rampe ins Foyer bis zum Parkett und zur Bühne erreichen konnten. Dass man diesen Saal zerstört, ist für mich vollkommen unverständlich und auch für viele Musikerinnen und Musiker wie für das Publikum. Da lässt sich Zürich eine einmalige Chance entgehen.

Die letzten Töne in der Tonhalle Maag verklingen.

Und weshalb kann man sich nun in der Tonhalle wohl fühlen?

Elisabeth Bösch: Das Farbkonzept, die Materialien, die helle Bühne sind ganz wichtig.

Ilona Schmiel: Und die Symmetrien.

Elisabeth Bösch: Ich mag allerdings Symmetrien, die ein bisschen aus dem Lot sind. Ich bin deshalb immer froh, wenn beispielsweise die Kontrabässe und das Schlagwerk nicht ganz symmetrisch aufgestellt sind. Ich habe lieber Gleichgewicht als Symmetrie. Gleichgewicht erzeugt Geborgenheit. Aber es sind sehr viele Zutaten, die zusammenwirken müssen. Deshalb haben wir zusammen mit den Restautoren und der Denkmalpflege auch endlos getüftelt. Zu den wichtigen Zutaten gehört übrigens auch das Grau, denn es ist ein schönes Grau, in dem man sich wohlfühlen kann.

Als Intendantin sind Sie, Ilona Schmiel, auch Gastgeberin. Was ist Ihnen in dieser Rolle besonders wichtig?

Ilona Schmiel: Dass das Publikum genauso wie die Künstlerinnen und Künstler glücklich, beseelt und herausgefordert werden. Sie sollen in der Tonhalle etwas erleben, das sie berührt und in ihnen lange nachhallt.

Und weshalb ist die Tonhalle auch im 21. Jahrhundert ein wichtiger Ort?

Ilona Schmiel: Wir leben in einer fragilen Weltlage wie schon lange nicht mehr. Ich bin überzeugt, die Schönheit des Raumes und die Schönheit der Musik gemeinsam erleben zu können, das gibt auch Stabilität. Und das ist etwas, das gerade in schwierigen Zeiten guttut und besonders wichtig ist.

Text: Thomas Binotto / Pia Stadler