Räume für Menschen

Tonhalle

Räume für Menschen

Urban Federer ist Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln – Paavo Järvi Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters. Ein Gespräch über Raum und Musik. Und jene Momente, in denen sich die Grenzen des Alltäglichen auflösen.

Gab es in Ihrer Kindheit einen Ort, an dem Sie sich besonders wohl fühlten?

Abt Urban: Bei mir war das kein Ort, aber ich hatte mein Cello. Am Cello konnte ich ganz bei mir sein.

Paavo Järvi: Mein Vater war ja auch Dirigent. Also wuchsen wir Kinder in einer Fantasiewelt der Musik auf. Sobald Musik klang, war für mich sofort dieses Spielerische spürbar.

Abt Urban: Ist das nicht auch für uns Erwachsene erstrebenswert: Musik einfach nur wahrzunehmen, ohne dabei gleich zu analysieren oder alles verstehen zu wollen?

Paavo Järvi: Ich vergesse nie den Ausspruch meines Lehrers: «Mich interessiert nicht, was du empfindest. Du hast das auszuführen, was der Komponist vorschreibt.» Wir werden also diszipliniert. Um dann auf der Höhe unseres Könnens die meiste Zeit damit zu verbringen, alles Akademische wieder zu vergessen.

Heute ist Ihr Wirken mit zwei ausserordentlichen Orten verbunden, der Tonhalle Zürich sowie der Klosterkirche in Einsiedeln. Was bedeuten Ihnen diese Orte?

Abt Urban: Als Sänger einer Gregorianik-Schola hatte ich einen Auftritt im grossen Saal der Tonhalle. Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich irgendwie verloren. Nicht weil ich denke, dass Gregorianik ausserhalb der Kirche keinen Platz hat. Doch in dieser Konstellation funktionierte unsere Musik nicht. Das machte mir deutlich, wie mich der Raum in Einsiedeln prägt mit seinem ganz eigenen Klang.

Paavo Järvi: Jeder Konzertsaal ist wie ein Instrument. Das will gespielt werden! Aber man muss auch aufeinander eingespielt sein. Nach vier Jahren zurück in der Tonhalle mussten wir wieder neu lernen, in diesem Raum zu musizieren. In der Tonhalle Maag hatten wir uns angewöhnt, kräftig und direkt zu spielen. Das passiert uns mitunter noch immer.

Die Ehrfurcht vor dem Raum, das Konzert als Ritual, der Dirigent als Hohepriester: Sind Konzertsäle in einer zunehmend säkularen Welt die neuen Kirchen?

Paavo Järvi: Für mich sind das tatsächlich heilige Räume. Die Vorstellung, einen Konzertsaal wie die Tonhalle Maag abzureissen, ist für mich unerträglich. Ich finde das barbarisch. Man muss sich bewusst machen, wie viel Energie drauf verwendet wurde, eine Halle zu schaffen mit einer Aura, der man sich nicht entziehen kann – ganz ähnlich wie in einer Kirche. In der heutigen Zeit regiert ein Multifunktions-Denken. Dagegen ist die Tonhalle speziell dafür gebaut, darin zu musizieren.

Abt Urban: Es geht doch immer darum, Räume für Menschen zu schaffen. Wenn Konzertsäle zu quasi sakralen Räumen werden, dann erfüllen sie diesen Zweck. Menschen dürfen darin eine Heimat finden und machen existenzielle Erfahrungen, die weit über den Alltag hinausreichen – wie in einer Kirche. 

Vom 7. bis 9. April 2022 wurden sechs junge Dirigentinnen und Dirigenten zur «Conductors' Academy» mit Paavo Järvi eingeladen. Die Meisterklasse fand öffentlich statt und ist auf dem YouTube-Kanal des Tonhalle-Orchsters dokumentiert.

 
Wie nehmen Sie als Dirigent diese Momente wahr, in denen man spürt: Jetzt geschieht etwas, das ich selbst nicht erklären kann?

Paavo Järvi: Zunächst sind wir ja weit davon entfernt, uns mit höheren Kräften zu verbinden. Wir müssen das Werk kennenlernen, üben und verstehen. Manchmal sitzen 120 Damen und Herren auf der Bühne, lauter Spezialisten, aber alles soll zusammenspielen. Ich verrate kein Geheimnis, dass nicht jede Vorstellung eine Sternstunde ist …

Abt Urban: … im Kloster auch nicht, fürchte ich.

Paavo Järvi: Herbert von Karajan war der Meinung, man könne die ersten zehn Aufführungen glatt vergessen. Wenn wir von Erhabenheit sprechen, dann müssen unendlich viele Dinge perfekt ineinandergreifen. Dazu gehört auch ein konzentriertes Publikum! Für diese Momente absoluter Magie gibt es keine Garantie. Aber wenn es geschieht, dann spürt das wirklich jeder.

Transzendenz wird oft als eine individuelle Erfahrung beschrieben. Sie sprechen von einem gemeinschaftlichen Erlebnis.

Paavo Järvi: In der Musik gibt es niemals nur eine Antwort. Und das heisst: Diese Erfahrung ist immer gleichzeitig individuell und kollektiv.

Abt Urban: Das kann ich für den gregorianischen Choral nur bestätigen. Musik ist ein Geschenk. Und Musik ist etwas, das geschehen muss. Man spürt sofort, wenn jemand versucht, der Musik seinen Ausdruck aufzuzwingen. Wenn ich meinen eigenen Körper als Instrument begreife, dann kann die Musik durch uns hindurchfliessen. Der gregorianische Choral kennt keine Takteinteilung – der eigene Herzschlag liefert ihm den Puls …

Paavo Järvi: … und der Text führt zum Rhythmus.

Abt Urban: Deshalb kann sich da niemand verstellen. Man hört sofort, ob Menschen gestresst sind oder aus der Stille heraus, aus ihrer eigenen Mitte kommen. Man muss der Musik in Bescheidenheit und Demut begegnen. Das sind vielleicht altmodische Begriffe, aber die Haltung dahinter scheint mir wichtig: Als Musiker kann ich nur meinen kleinen Beitrag leisten, damit sich etwas Grosses entfaltet.

Was bedeutet Transzendenz für Sie?

Paavo Järvi: Transzendenz oder Erhabenheit kommt niemals aus dem Gehirn. Ich vertraue meinem Gehirn immer, denn es leistet die ganze Arbeit. Doch wenn es darauf ankommt, folge ich meinem Bauchgefühl. Diese Erfahrung, bewegt zu werden, ohne genau zu wissen warum, ist eine Ahnung von Transzendenz. Aber über Musik zu sprechen ist, wie Architektur zu tanzen: eine Unmöglichkeit.

Abt Urban: Das Privileg zu musizieren, selbst wenn man das professionell betreibt, ist für mich keine Option, sondern eine Berufung. Eine Antwort auf Gott, der mich ruft. Dieser Gott übersteigt mich, ist transzendent und kann nie ganz begriffen werden. Religion ist wie die Musik ein Mysterium. In beiden Fällen geht es um Erfahrungsräume, die sich mir öffnen. Anfangspunkte, keine Endpunkte.

Ein wichtiger Aspekt ist auch die Zeit. Musik benötigt ja immer Zeit, um überhaupt zu erklingen …

Abt Urban: Ein Freund macht Kunst inmitten der Alpen. Die Berge schaffen einen ganz neuen Raum für Musik. Und plötzlich verliert dort unser Zeitbegriff seine Wichtigkeit. In einer solchen Umgebung verändert sich unser ganzes Empfinden, gerade auch für die Zeit.

Paavo Järvi: Zeit hat für mich viel mit Erinnerung zu tun. Wenn wir in der Tonhalle ein Konzert auf-führen, dann schaffen wir Erinnerungen – und auch ein kollektives Gedächtnis. Man muss sich das vorstellen: Wie viel Musik ist hier schon erklungen, da waren wir noch gar nicht auf der Welt.

Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Kathedralen der Musik und des Glaubens noch etwas eint: Grosse Teile unserer Gesellschaft halten sie schlichtweg für irrelevant.

Abt Urban: In Einsiedeln kann man eine interessante Beobachtung machen: Da kommen so viele Leute, aber sie werden von einer grossen Ruhe ergriffen. Zunächst einmal durch den Raum. Dann auch durch unseren Gesang. Mit unserem Stundengebet sind wir immer da, egal ob die Kirche leer ist oder voll. Es ist eine Einladung an alle Menschen, sich zu öffnen und sich berühren zu lassen.

Paavo Järvi: Das ist der Grund, warum ein Flughafen niemals ein erhabener Ort sein kann. Kirchen und Konzertsäle verbindet eine vollständig andere Dimension. Sie sind weder auf Effizienz noch auf Praktikabilität ausgerichtet. Was in ihnen geschieht, ist spirituell, emotional, intuitiv – alles, was sich nicht greifen lässt. So gesehen bieten sie die absolut ineffizienteste Möglichkeit, seine Zeit zu verbringen. Und genau das macht sie so aussergewöhnlich und wichtig.

Text: Clemens Prokop